Er lief zu dem kleinen Schuppen neben der Scheune. Es war Sommer, genau wie jetzt, und als er in den Schuppen trat, schlug ihm der Geruch des toten Kaninchens entgegen wie ein gewaltiger rechter Schwinger. Das Fell, das er so gern gestreichelt hatte, war zottig und verdreckt. In den Höhlen, in denen die hübschen rosa Augen des Kaninchens gewesen waren, krochen geschäftige weiße Maden. Die Pfoten des Tieres waren aufgekratzt und blutig. Er versuchte sich einzureden, daß die Pfoten blutig waren, weil es versucht hatte, sich aus dem Käfig zu befreien, und so war es zweifellos auch gewesen, aber eine flüsternde Stimme in einem dunklen, kranken Teil seines Verstands sagte, daß das Kaninchen im letzten Extremstadium des Hungers versucht hatte, sich selbst zu fressen.
Lloyd hatte das Kaninchen genommen, ein tiefes Loch ausgehoben und es mitsamt dem Käfig begraben. Sein Vater hatte ihn nie nach dem Kaninchen gefragt, hatte vielleicht sogar vergessen, daß sein Sohn überhaupt ein Kaninchen gehabt hatte - Lloyd war nicht sonderlich gescheit, aber verglichen mit seinem Vater war er ein Geistesriese -, aber Lloyd hatte es nie vergessen. Er hatte immer lebhaft geträumt, aber der Tod des Kaninchens löste eine Serie schrecklicher Alpträume aus. Die Vision des Kaninchens hatte er jetzt wieder deutlich vor Augen, als er mit zur Brust gezogenen Knien auf der Pritsche saß und sich sagte, daß jemand kommen würde, daß ganz bestimmt jemand kommen und ihn freilassen würde. Er hatte diese Captain-Trips-Grippe nicht; er hatte nur Hunger. Wie sein Kaninchen Hunger gehabt hatte. So einfach war das. Kurz nach Mitternacht war er eingeschlafen, und heute morgen hatte er angefangen, am Bein der Pritsche zu arbeiten. Und als er seine blutigen Finger betrachtete, dachte er mit neuem Entsetzen an die blutigen Pfoten seines einstigen Kaninchens, dem er nichts zuleide hatte tun wollen.
Am 29. Juni um ein Uhr nachmittags hatte er das Bein der Pritsche gelöst. Am Ende hatte der Bolzen lächerlich leicht nachgegeben, das Bein war auf den Boden der Zelle gepoltert, und er hatte es eine Weile betrachtet und sich gefragt, wozu in aller Welt er es überhaupt gewollt hatte. Es war etwa neunzig Zentimeter lang. Er trug es zum vorderen Gitter der Zelle und begann wütend gegen die Stahlstäbe zu hämmern. »He!« brüllte er unter dem tief hallenden, gongartigen Dröhnen der Stangen. »He, ich will raus! Ich will raus, habt ihr nicht gehört? He, verdammt noch mal, hei«
Er schwieg und lauschte, während die Echos verstummten. Einen Augenblick lang herrschte völlige Stille, dann kam von unten aus dem Zellentrakt die heisere, inbrünstige Antwort: »Mutter! Hier unten, Mutter! Ich bin hier unten!«
»Scheeeiiiiße!« schrie Lloyd und warf das Pritschenbein in die Ecke. Er hatte sich stundenlang abgemüht und praktisch die Finger kaputtgemacht, nur um dieses Arschloch zu wecken.
Er setzte sich auf die Pritsche, hob die Matratze an und nahm ein Stück Schwarzbrot heraus. Er fragte sich, ob er eine Handvoll Datteln dazu nehmen sollte, sagte sich, er sollte sie aufheben, und nahm sie dann doch. Er aß eine nach der anderen und verzog dabei das Gesicht, und das Brot hob er bis zuletzt auf, um den schleimigen fruchtigen Geschmack aus dem Mund zu bekommen.
Als er diesen jämmerlichen Ersatz für eine Mahlzeit hinter sich hatte, ging er rastlos zur rechten Seite der Zelle. Er sah nach unten und unterdrückte einen Aufschrei des Ekels. Trask lag halb auf der Pritsche, seine Hosenbeine waren ein wenig hochgerutscht. Über den Gefängnispantoffeln, die sie einem hier gaben, waren die bloßen Knöchel zu sehen. Eine große schlanke Ratte tat sich an Trasks Bein gütlich. Ihr widerlicher rosa Schwanz war fein säuberlich um den grauen Leib geringelt.
Lloyd ging in die andere Ecke seiner Zelle und hob das Pritschenbein auf. Er ging zurück und wartete ab, ob die Ratte ihn sehen und einen Ort mit etwas stillerer Gesellschaft aufsuchen würde. Aber die Ratte wandte ihm den Rücken zu, und soweit Lloyd abschätzen konnte, ahnte sie nicht einmal etwas von seiner Anwesenheit. Lloyd schätzte die Entfernung mit dem Auge ab und kam zum Ergebnis, daß das Pritschenbein einen Volltreffer landen würde.
»Hah!« machte Lloyd und holte mit dem Pritschenbein aus. Es quetschte die Ratte gegen Trasks Bein, und Trask rutschte mit einem steifen Platscher von der Pritsche. Die Ratte lag betäubt auf der Seite und atmete nur noch schwach. Sie hatte Blutstropfen in den Schnurrhaaren. Ihre Hinterbeine bewegten sich, als würde das kleine Rattenhirn ihr den Rat geben wegzulaufen, aber irgendwo entlang der Wirbelsäule schienen die Signale völlig durcheinanderzugeraten. Lloyd schlug noch einmal zu und machte ihr den Garaus.
»Das hast du davon, Mistvieh«, sagte Lloyd. Er legte das Pritschenbein weg und ging zur Koje zurück. Ihm war heiß, ängstlich und zum Weinen zumute. Er blickte über die Schulter zurück und schrie: »Wie gefällt es dir in der Rattenhöhle, elender kleiner Pisser?«
»Mutter?« antwortete eine fröhliche Stimme. »Muuutter!«
» Halt's Maul!« brüllte Lloyd. » Ich bin nicht deine Mutter! Deine Mutter ist in einem Hurenhaus in Asshole, Indiana, fürs Blasen zuständig!«
»Mutter?« sagte die Stimme voller Zweifel. Dann verstummte sie. Lloyd fing an zu weinen. Dabei rieb er sich wie ein kleiner Junge mit den Fäusten die Augen. Er wollte ein Steak-Sandwich, er wollte mit seinem Anwalt sprechen, er wollte hier raus.
Schließlich legte er sich auf die Pritsche, legte einen Arm über die Augen und masturbierte. Die Methode war zum Einschlafen so gut wie jede andere.
Als er wieder aufwachte, war es fünf Uhr nachmittags, und im Hochsicherheitstrakt herrschte Totenstille. Benommen stand Lloyd von der Pritsche auf, die sich jetzt wie betrunken zu der Seite hinabneigte, wo ihr ein Bein fehlte. Er ergriff das Bein und schlug damit gegen die Gitterstäbe wie der Koch auf einer Farm, der das Gesinde zum Essen ruft. Essen. Welch ein Wort, hatte es je ein schöneres gegeben? Schweinesteaks mit Kartoffeln und Soßen und jungen grünen Erbsen und Milch mit Hershey-Schokoladensirup drin. Und ein großer Becher Erdbeereis als Nachtisch. Nein, es gab kein Wort, daß sich mit Essen vergleichen ließ.
»He, ist niemand da?« rief Lloyd, und seine Stimme überschlug sich. Keine Antwort. Nicht einmal der Ruf nach der Mutter. In diesem Augenblick hätte er sich sogar darüber gefreut. Selbst Verrückte waren bessere Gesellschaft als Tote.
Lloyd ließ das Pritschenbein klirrend auf den Boden fallen. Er stolperte zu seiner Pritsche zurück, hob die Matratze hoch und machte Inventur. Noch zwei Kanten Brot, zwei Handvoll Datteln, ein halb abgenagtes Kotelett, ein Stück Wurst. Er riß die Wurst in zwei Teile und aß das größere Stück, aber das regte nur seinen Appetit an und entfachte ihn um so mehr.
»Jetzt nichts mehr«, flüsterte er, dann nagte er den Rest Fleisch vom Knochen und machte sich bittere Vorwürfe und fing wieder an zu weinen. Er würde hier drinnen sterben, so wie das Kaninchen in seinem Käfig gestorben war und Trask in seiner Zelle. Trask.
Er sah lange und nachdenklich in Trasks Zelle und beobachtete die Fliegen beim Kreisen, Landen und Wiederaufsteigen. Trasks Gesicht war ein regelrechter L. A. International Airport für Fliegen. Schließlich nahm Lloyd das Pritschenbein, ging zu den Gitterstäben und schob es hindurch. Wenn er sich auf Zehenspitzen stellte, konnte er den Kadaver der Ratte gerade noch erreichen und in seine Zelle herüberziehen.
Als sie nahe genug war, kniete Lloyd sich hin und zog die Ratte auf seine Seite. Er hob sie am Schwanz hoch und ließ den Kadaver lange vor seinen Augen baumeln. Dann legte er sie unter die Matratze, wo die Fliegen sie nicht erreichen konnten, aber er legte den schlaffen Körper getrennt von den Resten seiner Verpflegung hin. Er starrte die Ratte eine lange Zeit an, bevor er die Matratze fallen ließ und das Tier gnädig vor seinen Blicken verbarg.