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Sie schüttelte den Kopf, zitterte in der leichten Zugluft, nieste und schwankte ein wenig. Nick legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie zu einem Stuhl. Er schrieb: »Können Sie für mich seine Praxis anrufen?«

»Ja, natürlich. Bringen Sie mir das Telefon, Nick. Ich scheine... in der Nacht einen Rückfall gehabt zu haben.«

Er brachte ihr das Telefon, und sie wählte Soames' Nummer. Nachdem sie den Hörer über eine halbe Minute ans Ohr gehalten hatte, wußte er, daß niemand antworten würde.

Sie versuchte es in seiner Wohnung, dann bei seiner Sprechstundenhilfe. Keine Antwort.

»Ich versuch's bei der State Patrol«, sagte sie, aber nachdem sie eine einzige Ziffer gewählt hatte, legte sie den Hörer wieder auf die Gabel. »Ich glaube, Ferngespräche kann man immer noch nicht führen. Wenn ich die Eins gewählt habe, macht es immer nur tut -tuttut.« Sie lächelte blaß und weinte wieder hilflos. »Armer Nick«, sagte sie. »Und ich arme Frau. Wir sind alle so arm. Können Sie mir nach oben helfen? Ich fühle mich so schwach und kann kaum atmen. Ich glaube, ich werde bald bei John sein.« Er sah sie an und wünschte sich, er könnte sprechen. »Ich werde mich hinlegen, wenn Sie mir helfen.«

Er half ihr die Treppe hinauf und schrieb: »Ich komme wieder.«

»Danke, Nick. Sie sind ein guter Junge...« Sie war schon im Begriff einzuschlafen.

Nick verließ das Haus, blieb auf dem Gehweg stehen und fragte sich, was er als nächstes tun sollte. Wenn er Auto fahren könnte, könnte er etwas unternehmen. Aber so...

Er sah ein Kinderfahrrad auf dem Rasen eines Hauses auf der anderen Straßenseite liegen. Er ging hinüber, betrachtete das Haus, vor dem es lag, dessen Rollos heruntergelassen waren (wie bei den Häusern in seinen Träumen), schließlich klopfte er an die Tür.

Niemand kam aufmachen, obwohl er mehrmals klopfte. Er ging wieder zu dem Fahrrad. Es war klein, aber nicht so klein, dass er nicht damit fahren konnte, sofern es ihn nicht störte, daß seine Knie an die Handgriffe stießen. Er würde albern aussehen, gewiß, aber er war nicht sicher, ob überhaupt noch jemand in Shoyo war, der ihn sehen konnte... und selbst wenn, glaubte er nicht, daß vielen zum Lachen zumute sein würde.

Er stieg auf das Fahrrad und radelte unbeholfen die Main Street entlang, am Gefängnis vorbei, dann auf der Route 63 nach Osten, dorthin, wo Joe Rackman die Soldaten gesehen hatte, die sich als Straßenarbeiter tarnten. Wenn sie tatsächlich Soldaten und noch da waren, würde Nick sie darum bitten, sich um Billy Warner und Mike Childress zu kümmern. Das heißt, wenn Billy noch lebte. Wenn die Männer Shoyo unter Quarantäne gestellt hatten, dann war Shoyos Krankheit sicher ihre Schuld.

Er brauchte eine Stunde, um zu der Baustelle zu radeln, das Fahrrad schlingerte trunken über den Mittelstreifen hin und her, und seine Knie stießen mit monotoner Regelmäßigkeit gegen die Handgriffe. Aber als er dort ankam, waren die Soldaten, Straßenarbeiter oder was auch immer sie waren, verschwunden. Ein paar Warnlichter standen noch da, manche blinkten auch noch. Und zwei orangefarbene Sägeböcke. Die Straße war aufgerissen, aber Nick glaubte, daß sie trotzdem passierbar war, wenn man auf die Stoßdämpfer seines Autos nicht allzuviel Rücksicht nahm.

Er erblickte aus dem Augenwinkel ein schwarzes, waberndes Etwas, gleichzeitig erhob sich ein leichter Wind, nur eine schwache Sommerbrise, aber ausreichend, daß sie den schweren, ekelerregenden Geruch von Verwesung zu ihm trug. Das schwarze, sich bewegende Etwas war eine Wolke Fliegen, die sich ständig neu formierten. Er schob das Fahrrad zum Straßengraben auf der anderen Seite. Dort lagen die Leichen von vier Männern neben einem funkelnden neuen Abwasserrohr. Ihre Gesichter und geschwollenen Hälse waren schwarz. Nick wußte nicht, ob sie Soldaten waren oder nicht, und er ging nicht näher hin. Du mußt dich einfach umdrehen und weggehen, sagte er sich. Du brauchst keine Angst zu haben, sie sind tot, und Tote können einem nichts tun. Aber als er zwanzig Meter vom Graben entfernt war, rannte er schon, und dann radelte er von Panik erfüllt nach Shoyo zurück. Am Stadtrand fuhr er über einen Stein und machte eine Bruchlandung mit dem Rad, Er flog über die Lenkstange, schlug sich den Kopf an und schürfte sich die Hände auf. Trotzdem verweilte er nur einen Augenblick mitten auf der Straße, am ganzen Körper zitternd.

Die nächsten anderthalb Stunden an diesem Morgen, gestern morgen, klopfte Nick an Türen und drückte auf Klingelknöpfe. Irgend jemand mußte gesund sein, sagte er sich. Er selbst fühlte sich gut, und er konnte sicher nicht der einzige sein. Es mußte jemanden geben, einen Mann oder eine Frau oder vielleicht einen Teenager mit einem Anfängerführerschein, und er oder sie würde sagen: Ja, klar doch. Bringen wir sie nach Camden. Wir nehmen den Kombi.Oder Ähnliches.

Aber sein Klopfen oder Klingeln wurde nur etwa ein dutzendmal beantwortet. Die Türen öffneten sich so weit, wie die Kette es zuließ, und ein krankes, aber hoffnungsvolles Gesicht erschien im Spalt, sah Nick, und die Hoffnung erstarb. Der Kopf machte eine verneinende Bewegung, dann wurde die Tür wieder zugemacht. Wenn Nick sprechen könnte, hätte er den Leuten gesagt: Wenn ihr gehen könnt, könnt ihr auch fahren. Wenn ihr meine Gefangenen nach Camden bringt, kommt ihr selbst dorthin, und da ist ein Krankenhaus. Dort wird man euch gesundpflegen. Aber er konnte nicht sprechen. Einige fragten ihn, ob er Dr. Soames gesehen hatte. Ein Mann riß im Fieberwahn die Tür seines kleinen Ranchhauses weit auf, stürzte nur in Unterhosen auf die Veranda und versuchte, Nick zu packen. Er sagte, er wolle tun, »was ich schon in Houston mit dir hätte tun sollen«. Er hielt Nick für jemand namens Jenner. Er torkelte auf der Veranda hinter Nick her wie ein Zombie in einem drittklassigen Horrorfilm. Seine Genitalien waren schrecklich geschwollen; seine Unterhose sah aus, als hätte jemand eine Honigmelone hineingesteckt. Schließlich fiel er krachend auf die Veranda, und Nick beobachtete ihn mit Herzklopfen vom Rasen aus. Der Mann schüttelte müde die Faust und kroch ins Haus zurück, ohne die Tür zu schließen.

Aber die meisten Häuser waren dunkel und geheimnisvoll, und zuletzt konnte er nicht mehr. Das traumgleiche Gefühl des Geheimnisvollen überkam ihn, und es wurde unmöglich, den Gedanken abzuschütteln, daß er an Gräber klopfte, daß er klopfte, um die Toten zu wecken, und die Toten früher oder später antworten würden. Es half nicht viel, sich zu vergegenwärtigen, daß die meisten Häuser leerstanden, ihre Bewohner nach Camden oder El Dorado oder Texarkana geflohen waren.

Er ging zum Haus der Bakers zurück. Jane Baker schlief fest, ihre Stirn war kühl. Aber diesmal hatte er nicht mehr so viel Hoffnung. Es war Mittag. Nick ging zum Truck Stop zurück und spürte jetzt, dass er in der Nacht wenig geschlafen hatte. Sein ganzer Körper schmerzte vom Sturz mit dem Rad. Bakers Fünfundvierziger schlug ihm gegen die Hüfte. Im Truck Stop machte er zwei Dosen Suppe heiß und füllte sie in Thermosflaschen. Die Milch im Kühlschrank schien noch gut zu sein, daher nahm er auch davon eine Flasche. Billy Warner war tot, und als Mike Nick sah, kicherte er hysterisch und deutete mit dem Finger auf ihn: »Zwei sind weg und einer übrig!

Zwei sind weg und einer übrig! Du bekommst deine Rache, stimmt's? Stimmt's?«

Nick schob vorsichtig mit dem Besenstiel die Thermosflasche mit Suppe unter der Tür durch, dann ein großes Glas Milch. Mike trank die Suppe in kleinen Schlucken direkt aus der Thermosflasche. Nick nahm seine eigene Thermosflasche und setzte sich im Flur hin. Er würde Billy nach unten schaffen, aber zuerst mußte er etwas essen. Er hatte Hunger. Während er seine Suppe trank, sah er Mike nachdenklich an.

»Willst du wissen, wie es mir geht?« fragte Mike.

Nick nickte.

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