Er blieb fast den ganzen Vormittag zu Hause und versuchte, ihr zu helfen. Er trug das Fernsehgerät an ihr Bett, wobei seine Oberarmmuskeln heroisch hervortraten (»Du hebst dir einen Bruch, nur damit ich >Let's Make a Deal< sehen kann«, schniefte sie), brachte ihr etwas zu trinken und eine alte Flasche Nyquil wegen ihrer Blähungen, und er lief nach unten zum Markt, um ihr ein paar Taschentücher zu kaufen.
Dann konnten sie nicht mehr viel tun, außer einander auf die Nerven zu gehen. Sie beschwerte sich darüber, wieviel schlechter der Fernsehempfang im Schlafzimmer war, und er verbiß sich einen giftigen Kommentar, von wegen ein schlechter Empfang sei immer noch besser als gar kein Empfang. Schließlich sagte er ihr, er wolle ausgehen und sich ein wenig die Stadt ansehen.
»Das ist eine gute Idee«, sagte sie sichtlich erleichtert, »ich werde etwas schlafen. Du bist ein guter Junge, Larry.«
Und so war er erleichtert und doch voller Schuldgefühle die schmale Treppe hinunter (der Fahrstuhl war immer noch defekt) und auf die Straße gegangen. Der Tag gehörte ihm, und er hatte immer noch zweihundert Dollar in bar.
Aber jetzt, am Times Square, war er nicht mehr so fröhlich. Er schlenderte ziellos umher; die Brieftasche hatte er schon lange in eine der vorderen Taschen gesteckt. Er blieb vor einem Schallplattenladen stehen und hörte gebannt seine eigene Stimme aus den angeschlagenen Lautsprechern über ihm. Die Mittelstrophe.
»I didn't come to ask you to stay all night
Or to find out if you've seen the light
I didn't come to make a fuss or pick a fight
I just want you to tell me if you can think you can
Baby, can you dig your man?
Dig him, baby - Baby, can you dig your man?«
Das bin ich, dachte er und sah mit leerem Blick die Alben an, aber heute deprimierte ihn der Klang. Schlimmer, er bekam Heimweh. Er wollte nicht hier unter diesem grauen Waschküchenhimmel sein, New Yorker Abgase riechen und mit einer Hand dauernd Taschenbillard mit der Brieftasche spielen, um sich zu vergewissern, daß sie noch da war. New York, dein Name ist Paranoia. Plötzlich wollte er in einem Aufnahmestudio an der Westküste sein, ein neues Album aufnehmen.
Larry beschleunigte seine Schritte und betrat eine Spielhalle. Glocken und Summer taten ihm in den Ohren weh, das verstärkte, durchdringende Knurren von Deathrace 2000 war zu hören, einschließlich der schauderhaften elektronischen Schreie sterbender Fußgänger. Hübsches Spiel, dachte Larry, und bald gibt es Dachau 2000. Das wird den Kids gefallen. Er ging zur Wechselkabine und wechselte einen Zehner in Vierteldollarmünzen. Neben dem Beef 'n Brew auf der anderen Straßenseite war ein Telefonkiosk, der geöffnet hatte, und er wählte die Nummer von Jane's Place direkt aus dem Gedächtnis. Jane's war eine Spielhölle, wo sich Wayne Stukey manchmal herumtrieb.
Larry steckte Münzen in den Schlitz, bis ihm die Hand weh tat, und dreitausend Meilen entfernt klingelte das Telefon. Eine weibliche Stimme sagte: »Jane's. Offen.«
»Für alles?« fragte er tief und sexy.
»Hör zu, du Klugscheißer, dies ist kein... He, ist das Larry?«
»Ja, ich bin's. Hi, Arlene.«
»Wo bist du? Du läßt dich gar nicht mehr blicken, Larry.«
»Nun, an der Ostküste«, sagte er vorsichtig. »Jemand hat mir gesagt, Blutegel hätten sich an mir festgesetzt, und ich sollte aus dem Teich verschwinden, bis sie abfallen.«
»Hat das mit einer großen Party zu tun?«
»Ja.«
» Davonhabe ich gehört«, sagte sie. »Big Spender.«
»Ist Wayne da, Arlene?«
»Du meinst Wayne Stukey?«
»John Wayne meine ich nicht - der ist tot.«
»Soll das heißen, du hast es noch gar nicht gehört?«
»Was soll ich gehört haben? Ich bin an der anderen Küste. Ihm fehlt doch nichts, oder?«
»Er liegt mit diesem Grippevirus im Krankenhaus. Captain Trips nennen sie es hier drüben. Nicht, daß es zum Lachen wäre. Viele Leute sind daran gestorben, heißt es. Die Leute haben Angst und bleiben zu Hause. Wir haben sechs leere Tische, und du weißt, dass Jane's nie leere Tische hat.«
»Wie geht es ihm?«
»Wer weiß? Die Krankenhäuser sind voll von Leuten, und keiner darf Besuch empfangen. Richtig unheimlich, Larry. Und es sind eine Menge Soldaten hier.«
»Auf Urlaub?«
»Soldaten auf Urlaub tragen keine Waffen oder fahren in Lastwagenkonvois durch die Gegend. Viele Leute haben echt Angst. Du kannst froh sein, daß du weit weg bist.«
»War nichts in den Nachrichten?«
»In der Zeitung hat gestanden, man solle sich gegen Grippe impfen lassen, mehr nicht. Aber ein paar Leute sagen, daß die Armee nicht vorsichtig genug mit einem Seuchenkampfstoff umgegangen ist. Ist das nicht unheimlich?«
»Das ist nur Panikmache.«
»Gibt es das bei euch nicht?«
»Nein«, sagte er, aber dann mußte er an die Erkältung seiner Mutter denken. Und hatte er in der U-Bahn nicht jede Menge Niesen und Husten gehört? Er erinnerte sich, er war sich vorgekommen wie auf der TB-Station. Aber Niesen und triefende Nasen gab es schließlich in jeder Stadt. Grippeviren sind gesellig, dachte er. Sie teilen sich den Reichtum.
»Janey selbst ist auch nicht da«, sagte Arlene. »Sie sagt, sie hat Fieber und geschwollene Mandeln. Ich dachte, die alte Hure wäre viel zu zäh, um krank zu werden.«
»Drei Minuten sind um, bitte melden, wenn Gespräch beendet«, fuhr das Fräulein vom Amt dazwischen.
Larry sagte: »Ich bin in ungefähr einer Woche wieder da, Arlene. Wir treffen uns.«
»Einverstanden. Ich wollte schon immer mit einem berühmten Plattenstar ausgehen.«
»Arlene? Du kennst nicht zufällig einen Typen namens Dewey the Deck, oder?«
»Oh!« sagte sie plötzlich erschrocken. »O Mann! Larry!
»Was?«
»Gott sei Dank hast du noch nicht aufgelegt. Ich habe Wayrie gesehen, zwei Tage bevor er ins Krankenhaus gegangen ist. Hatte ich ganz vergessen. Herrje!«
»Ja, was denn?«
»Es ist ein Umschlag. Er sagte, der sei für dich, aber er bat mich, ihn eine Woche oder so in der Kasse zu lassen oder ihn dir zu geben, wenn ich dich sehe. Er sagte so was wie >Er kann verdammt froh sein, daß Dewey the Deck den nicht an seiner Stelle kriegt!<«
»Was ist drin?« Er nahm den Hörer von einer Hand in die andere.
»Moment. Ich seh' nach.« Ein Augenblick Stille, dann hörte er Papier zerreißen. »Es ist ein Sparbuch«, sagte Arlene. »First Commercial Bank of California. Der Kontostand ist... Mann! Etwas mehr als dreizehntausend Dollar.
Wenn du mich in eine billige Klitsche einlädst, schlage ich dir den Schädel ein.«
»Das wird nicht nötig sein«, sagte er grinsend. »Danke, Arlene. Bitte, heb das für mich auf.«
»Nein, ich werf es in den Gully. Arschloch.«
»Es ist so schön, wenn man geliebt wird.«
Sie seufzte. »Du bist ein Knallkopf, Larry. Ich tue es in einen Umschlag mit unseren beiden Namen. Dann kannst du mich nicht bescheißen, wenn du nach Hause kommst.«
»Das würde ich nie wagen, Süße.«
Sie legten auf, und dann meldete sich das Fräulein vom Amt und verlangte noch drei Dollar für Ma Bell, sprich: die Telefongesellschaft. Larry, der immer noch das breite, alberne Grinsen im Gesicht spürte, steckte sie bereitwillig in den Schlitz. Er betrachtete das Kleingeld, das noch auf der Ablage der Telefonzelle lag, suchte ein Zehncentstück heraus und steckte es in den Schlitz. Einen Moment später klingelte das Telefon seiner Mutter. Der erste Impuls ist, eine gute Nachricht anderen mitzuteilen, der zweite, damit jemanden zu erschlagen. Er dachte - nein, er glaubte -, daß ausschließlich ersteres der Fall war. Er wollte sich selbst und ihr mit der Auskunft Erleichterung verschaffen, daß er wieder flüssig war.