»Stu«, sagte er, und seine Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. Alles war jetzt in weiter Ferne. »Hallo, Tom, es ist schön, dich zu sehen.« Aber er sah ihn nicht, nicht an diesem Abend. Stu verlor das Bewußtsein.
Er wachte gegen zehn Uhr am Morgen des 2. Oktober auf, wenn auch weder Tom noch er das Datum wußten. Tom hatte ein riesiges Freudenfeuer angezündet und hatte Stu in seinen Schlafsack gesteckt und in seine eigenen Decken gewickelt. Tom selbst sass jetzt am Feuer und briet ein Kaninchen. Kojak lag zufrieden zwischen beiden auf der Erde.
»Tom«, brachte Stu mühsam hervor.
Tom ging zu ihm. Er hatte sich einen Bart stehen lassen, wie Stu jetzt bemerkte; er sah kaum noch wie der Mann aus, der vor fünf Wochen in Boulder aufgebrochen war, um in den Westen zu gehen. Seine blauen Augen leuchteten glücklich. »Stu Redman! Du bist jetzt wach, meine Fresse, ja! Junge, Junge, schön dich zu sehen. Was hast du denn mit deinem Bein gemacht? Wohl verletzt. Ist mir auch mal passiert. Bin von einem Heuhaufen gesprungen und hab' mir das Bein gebrochen. Hat mein Daddy mich wohl verprügelt? Meine Fresse, ja! Das war, bevor er mit DeeDee Packalotte abhaute.«
»Tom, ich habe entsetzlichen Durst...«
»Oh, da ist Wasser. Alle Sorten! Hier.«
Er reichte Stu eine Plastikflasche, die früher Milch enthalten haben mochte. Das Wasser war klar und schmeckte köstlich. Überhaupt kein Sand darin. Stu trank gierig und brach dann alles wieder aus.
»Langsam, langsam«, sagte Tom. »Nur so geht es. Langsam, langsam. Junge, Junge, schön dich zu sehen. Du hast dir wohl das Bein weh getan?«
»Ja. Ich habe es mir gebrochen. Vor einer Woche. Vielleicht ist es länger her.« Er trank noch einen Schluck Wasser, und diesmal spuckte er es nicht wieder aus. »Aber es ist nicht nur das Bein. Ich bin sehr krank, Tom. Fieber. Hör zu.«
»Gut! Tom hört zu. Sag mir nur, was ich tun soll.« Tom beugte sich vor, und Stu dachte: Er sieht intelligenter aus. Ist das möglich?Wo war Tom gewesen? Wußte er irgend etwas über den Richter? Über Dayna? Es gab so viele Dinge, über die man reden müßte. Aber jetzt war keine Zeit dazu. Sein Zustand verschlechterte sich. Sein Atem ging rauh und rasselnd. Die Symptome waren denen der Supergrippe ähnlich. Es war wirklich ziemlich komisch.
»Ich muß das Fieber runterkriegen«, sagte er zu Tom. »Das ist das wichtigste. Ich brauche Aspirin. Kennst du Aspirin?«
»Klar. Aspirin. Ganz, ganz schnelle Besserung.«
»Ja, das ist das Zeug. Du läufst auf der Straße weiter, Tom. Such einen Verbandskasten - höchstwahrscheinlich ist es ein Kasten mit einem roten Kreuz drauf. Wenn du in solch einem Kasten Aspirin findest, bringst du es mit. Und wenn du ein Auto mit einer CampingAusrüstung findest, bringst du ein Zelt mit. Okay?«
»Klar.« Tom stand auf. »Aspirin und ein Zelt, und dann geht es dir wieder besser, ja?«
»Das wäre wenigstens ein Anfang.«
»Sag mal«, sagte Tom, »wie geht es Nick? Ich habe von ihm geträumt. In den Träumen hat er mir gesagt, wohin ich gehen soll. In den Träumen kann er nämlich sprechen. Träume sind komisch, nicht wahr? Aber wenn ich mit ihm sprechen will, geht er immer weg. Ihm geht es doch gut, oder?« Tom sah Stu besorgt an.
»Nicht jetzt«, sagte Stu. »Ich... ich kann jetzt nicht darüber reden. Nicht darüber. Besorg mir das Aspirin, okay? Dann unterhalten wir uns.«
»Okay...« Aber Angst zog über Toms Gesicht wie eine dunkle Wolke.
»Kojak, willst du mit Tom gehen?«
Kojak wollte. Sie gingen gemeinsam in Richtung Osten. Stu legte sich hin und hielt sich einen Arm vor die Augen.
Als Stu wieder in die Wirklichkeit zurückfand, dämmerte es. Tom schüttelte ihn. »Stu! Wach auf! Wach auf, Stu!«
Die Tatsache, daß die Zeit in plötzlichen Schüben verstrich, jagte ihm Angst ein - es schien, als bewege sich das Zahnrad seiner Wahrnehmungsfähigkeit in ruckartigen, unregelmäßigen Sprüngen. Tom mußte ihm helfen, sich aufzusetzen, und als er saß, beugte er den Kopf zwischen die Beine und hustete. Er hustete so lange und heftig, daß er fast wieder in Ohnmacht gefallen wäre. Tom beobachtete ihn erschrocken. Ganz allmählich bekam Stu sich wieder in die Gewalt. Er zog die Decken fester um sich. Jetzt zitterte er wieder.
»Was hast du gefunden, Tom?«
Tom hielt ihm einen Verbandskasten hin. In dem Kasten waren Verbandszeug, Mercurochrom und eine große Flasche Anacin. Stu fand es peinlich, daß er den kindersicheren Verschluß nicht öffnen konnte. Er mußte sie Tom reichen, der sie schließlich aufkriegte. Er spülte drei Anacin mit Wasser aus der Plastikflasche hinunter.
»Und das hab' ich auch gefunden«, sagte Tom. »Es lag in einem Wagen mit Camping-Ausrüstung, aber ein Zelt war nicht dabei.« Er zeigte einen großen Doppelschlafsack, außen von fluoreszierendem Orangerot und innen mit einem lebhaften Muster aus Sternen und Balken.
»Das ist ja großartig. Es ist fast so gut wie ein Zelt. Das hast du prima gemacht, Tom.«
»Und die hier. Die lagen auch in dem Wagen.« Tom griff in seine Jackentasche und holte ein halbes Dutzend in Folie verpackte Lebensmittel hervor. Stu glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Es waren gefriergetrocknete Konzentrate. Eier, Erbsen, Kürbis, getrocknetes Rindfleisch. »Essen, nicht wahr, Stu? Jedenfalls sind Bilder von Essen darauf, meine Fresse, ja.«
»Es sind Lebensmittel«, bestätigte Stu dankbar. »Ungefähr das einzige, was ich essen kann.« Sein Kopf summte, und weit weg im Zentrum seines Gehirns hörte er ein widerwärtiges hohes C, das keine Ruhe gab. »Können wir etwas Wasser heiß machen? Wir haben keinen Kessel.«
»Ich werd' schon was finden.«
»Ja, gut.«
»Stu...«
Stu blickte wieder in dieses besorgte traurige Gesicht, trotz des Bartes immer noch das Gesicht eines Jungen. Er schüttelte langsam den Kopf.
»Tot, Tom«, sagte er leise. »Nick ist tot. Vor ungefähr einem Monat. Es war eine... eine politische Sache. Man könnte es wohl ein Attentat nennen. Es tut mir so leid.«
Tom ließ den Kopf hängen, und im Schein des neu angefachten Feuers sah Stu, daß Tom die Tränen von den Wangen liefen und auf seinen Schoß fielen, wie ein sanfter, silberner Regen. Schließlich blickte er auf, und seine blauen Augen waren heller als je zuvor. Er wischte sich die Tränen mit der Hand ab.
»Ich wußte es«, sagte er heiser. »Ich wollte nicht dran denken, dass ich es wußte, aber ich hab' es gewußt. Meine Fresse, ja. Er hat mir immer den Rücken zugedreht und ist fortgegangen. Er war mein bester Freund, Stu - wußtest du das?«
Stu streckte den Arm aus und ergriff Toms riesige Pranke. »Das wußte ich, Tom.«
»Ja, war er, M-O-N-D und das buchstabiert man bester Freund. Tom vermißt ihn schrecklich. Aber im Himmel seh' ich ihn wieder. Dort wird Tom Cullen ihn sehen. Und er wird sprechen können, und ich werde denken können. Stimmt doch, oder?«
»Das würde mich nicht überraschen, Tom.«
»Der böse Mann hat Nick getötet. Tom weiß es. Aber Gott hat den bösen Mann bestraft. Ich habe es gesehen. Die Hand Gottes ist aus dem Himmel gekommen.« Ein kalter Wind fegte über die Wüste von Utah, und Stu zitterte heftig. »Bestraft für das, was er Nick und dem armen Richter angetan hat. Meine Fresse, ja.«
»Was weißt du über den Richter, Tom?«
»Tot! Oben in Oregon! Erschossen!«
Stu nickte müde. »Und Dayna? Weißt du irgend etwas über sie?«
»Tom hat sie gesehen, aber er weiß nichts. Sie haben mir einen Reinigungsjob gegeben. Und als ich eines Tages zurückkam, sah ich, wie sie ihreArbeit machte. Sie war oben in der Luft und wechselte die Birnen in den Straßenlampen aus. Sie sah mich an und...« Er schwieg eine Weile, als er fortfuhr, sprach er mehr zu sich selbst als zu Stu. »Hat sie Tom gesehen? Hat sie Tom erkannt? Tom weiß es nicht. Tom... glaubt... daß sie ihn gesehen hat. Aber Tom hat sie nie wiedergesehen.«