Als er wieder zum Finger hinüberschaute, kam er ihm ein wenig näher vor, und gegen vier Uhr, als eine innere Stimme ihm zuflüsterte, es sei Zeit, sich für den kommenden Tag ein Versteck zu suchen, stand fest, daß er diesem Wahrzeichen ein gutes Stück näher gekommen war. In dieser Nacht würde er ihn allerdings nicht mehr erreichen.
Und wenn er ihn erreicht hatte (immer vorausgesetzt, sie fanden ihn tagsüber nicht)? Was dann?
Das war unwichtig.
Nick würde es ihm sagen. Der gute alte Nick.
Tom konnte es kaum erwarten, nach Boulder zu kommen und ihn wiederzusehen, meine Fresse, ja.
Im Schatten eines großen Felsens fand er ein einigermaßen bequemes Lager und schlief fast sofort ein. Er war in dieser Nacht ungefähr dreißig Meilen nach Nordosten gegangen und näherte sich den Mormon Mountains.
Am Nachmittag kroch eine Klapperschlange zu ihm herein, um der Hitze des Tages zu entgehen. Sie rollte sich neben Tom zusammen, schlief eine Weile und zog dann weiter.
Flagg stand an diesem Nachmittag am Rand des Sonnendecks auf dem Dach und sah nach Osten. In vier Stunden würde die Sonne untergehen, und der Schwachsinnige würde sich wieder auf den Weg machen.
Ein starker und beständiger Wüstenwind wehte ihm das dunkle Haar aus der heißen Stirn. Die Stadt hörte so unvermittelt auf und wich der Wüste. Ein paar Reklametafeln am Rande des Nirgendwo, das war alles. So viel Wüste, so viele Stellen, sich zu verstecken. Es waren schon oft Männer in diese Wüste gewandert und nie wieder gesehen worden.
»Aber diesmal nicht«, flüsterte er. »Ich werde ihn erwischen. Ich werde ihn erwischen.«
Er hätte nicht erklären können, warum es so wichtig war, den Schwachsinnigen zu fangen; die Vernunftgründe an diesem Problem entfielen ihm immer wieder. Er empfand in zunehmendem Maße den Drang, einfach zu handeln, sich zu bewegen, etwas zu tun. Zu zerstören.
Gestern abend, als Lloyd ihm von den Hubschrauberabstürzen und dem Tod der drei Piloten berichtete, hatte er seine ganze Selbstbeherrschung aufbieten müssen, um nicht in brüllende Raserei zu verfallen. Sein erster Impuls war gewesen, auf der Stelle eine bewaffnete Macht zu versammeln - Panzer, Flammenwerfer, Panzerfahrzeuge und alles, was dazugehört. Sie konnten in fünf Tagen in Boulder sein. Der ganze stinkende Dreck wäre in anderthalb Wochen ausgeräumt.
Gewiß.
Aber wenn auf den Bergpässen schon früh Schnee lag, wäre das das Ende seiner großartigen »Wehrmacht«. Und es war schon der 14. September. Gutes Wetter konnte man nicht mehr unbedingt voraussetzen. Wie, um alles in der Welt, hatte die Zeit so schnell vergehen können?
Aber er war der mächtigste Mann der Welt, oder? Es mochte Leute wie ihn in Rußland geben, in China oder im Iran, aber das war frühestens in zehn Jahren ein Problem. Jetzt war nur eins wichtig, er mußte überlegen bleiben, er wußte es, er fühlte es. Er war stark, mehr konnte der Schwachsinnige seinen Leuten nicht sagen... wenn er sich nicht in der Wüste verirrte oder in den Bergen erfror. Er konnte ihnen nur sagen, daß Flaggs Leute in Angst vor dem Wandelnden Gecken lebten und seine Befehle bedingungslos ausführten. Er konnte ihnen nur Dinge erzählen, die ihre Moral noch weiter untergraben würden. Warum hatte er dann aber dieses ständige bohrende Gefühl, daß Cullen gefunden und getötet werden mußte, bevor er den Westen verlassen konnte?
Weil ich es will, und weil ich auch bekommen werde, was ich will, und das ist Grund genug.
Und der Mülleimermann. Er hatte geglaubt, Müll ganz einfach abschreiben zu können. Er hatte geglaubt, den Mülleimermann fortwerfen zu können wie ein schadhaftes Werkzeug. Aber ihm war gelungen, was die gesamte Freie Zone nicht fertiggebracht hätte: Er hatte Sand in das narrensichere Getriebe der Eroberungsmaschinerie des dunklen Mannes geworfen.
Ich habe ihn falsch eingeschätzt...
Ein verhaßter Gedanke, den er nicht bis zu seiner letzten Konsequenz verfolgen mochte. Er warf sein Glas über das niedere Geländer und sah, wie es sich glitzernd überschlug, hinauswirbelte und dann nach unten fiel. Ein beiläufiger Gedanke schoß ihm durch den Kopf, der Gedanke eines boshaften Kindes: Hoffentlich fällt es jemandem auf den Kopf.
Weit unten fiel das Glas auf den Parkplatz und zerschellte - so weit unten, daß der dunkle Mann es nicht einmal hören konnte. Sie hatten in Indian Springs keine Bomben mehr gefunden. Sie hatten den ganzen Stützpunkt durchsucht. Offenbar hatte Müll seine Sprengladungen wahllos an den erstbesten Geräten angebracht, die er vorfand, an den Hubschraubern in Hangar 9 und den Tankwagen im Fuhrpark nebenan.
Flagg hatte seinen Befehl wiederholt, daß der Mülleimermann zu erschießen war, sobald er sich blicken ließ. Der Gedanke an den Mülleimermann, der auf dem unermeßlichen Regierungsgelände herumstreunte, wo Gott weiß was zu finden war, machte ihn jetzt sichtlich nervös.
Nervös.
Ja. Die wunderbare Gewißheit verflüchtigte sich immer noch. Wann hatte dieser Verflüchtigungsprozeß begonnen? Er konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen. Er wußte nur, daß die Dinge an den Rändern unscharf wurden. Lloyd wußte es auch. Er konnte es daran sehen, wie Lloyd ihn betrachtete. Es war vielleicht keine schlechte Idee, wenn Lloyd einen Unfall hatte, ehe der Winter zu Ende ging. Er war Busenfreund von zu vielen Arschlöchern hier, Leuten wie Whitney Horgan und Ken DeMott. Sogar Burlson, der die Sache mit der Roten Liste verplappert hatte. Er hatte sich überlegt, ob er Burlson dafür bei lebendigem Leib die Haut abziehen sollte.
Aber wenn Lloyd von der Roten Liste gewußt hätte, wäre das alles nicht...
»Sei still«, murmelte er. »Sei... einfach... still!«
Aber der Gedanke ließ sich nicht so leicht verdrängen. Warum hatte er Lloyd die Namen der Top-Leute der Freien Zone nicht mitgeteilt? Er wußte es nicht, konnte sich nicht mehr erinnern. Damals schien er gute Gründe dafür gehabt zu haben, aber je mehr er darüber nachdachte, um so mehr entglitten sie ihm. War es nur der bauernschlaue Entschluß gewesen, nicht zu viele Eier in einen Korb zu legen - das Gefühl, daß man einem einzelnen nicht zu viele Geheimnisse anvertrauen durfte, nicht einmal einem so dummen und loyalen Menschen wie Lloyd Henreid?
Ein Ausdruck von Verwirrung wogte über sein Gesicht. Hatte er schon die ganze Zeit so dumme Entschlüsse gefaßt?
Und wie loyal war Lloyd tatsächlich? Dieser seltsame Blick... Abrupt beschloß er, dies alles beiseitezuschieben und zu levitieren. Dabei fühlte er sich immer besser. Stärker und glücklicher, und sein Kopf wurde klarer. Er sah zum Himmel über der Wüste hinauf. ( Ich bin, ich bin, ich bin, ICH BIN...)
Seine abgelaufenen Absätze lösten sich vom Sonnendeck, schwebten, stiegen einen Zentimeter. Dann zwei. Er wurde ruhig und wußte plötzlich, daß er die Lösung finden würde. Alles war klarer. Zuerst mußte er...
»Sie kommen, um dich zu erledigen.«
Als er diese leise, monotone Stimme hörte, plumpste er wieder auf den Fußboden. Der Schock fuhr ihm durch Beine und Rückgrat bis in den Kiefer. Er wirbelte herum wie eine Katze. Aber sein aufkeimendes Grinsen erlosch, als er Nadine sah. Sie trug ein weißes Nachthemd, viele Meter gazeartigen Stoffs, der sich um ihren Körper bauschte. Ihr Haar war so weiß wie ihr Kleid und wehte um ihr Gesicht. Sie sah aus wie eine bleiche, irre Sibylle, und Flagg hatte Angst, er konnte nicht anders. Sie trat vorsichtig an ihn heran. Ihre Füße waren nackt.
»Sie kommen. Stu Redman, Glen Bateman, Ralph Brentner und Larry Underwood. Sie kommen, und sie werden dich töten wie ein Wiesel, das Hühner stiehlt.«
»Sie sind in Boulder«, sagte er, »verstecken sich unter ihren Betten und trauern um das alte Niggerweib.«
»Nein«, sagte sie interesselos. »Sie sind fast in Utah. Sie werden bald hier sein. Und sie werden dich ausmerzen wie eine Krankheit.«