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Früh am nächsten Morgen verließ Nadine die Stadt Gemdale und fuhr auf ihrer Vespa die I-15 entlang. Ihr schneeweißes offenes Haar flatterte im Wind und sah aus wie ein Brautschleier.

Ihr tat die Vespa leid, die ihr so lange treu gedient hatte und jetzt am Ende war. Die vielen Meilen und die Gluthitze in der Wüste, die anstrengende Fahrt über die Rockies und die mangelhafte Wartung hatten ihren Tribut gefordert. Der Motor klang jetzt heiser und angestrengt. Der Drehzahlmesser blieb nicht mehr brav bei 5 x 1000 stehen, sondern zitterte hin und her. Es machte nichts. Wenn die Maschine den Geist aufgab, bevor sie ihr Ziel erreicht hatte, würde sie zu Fuß weitergehen. Niemand jagte sie. Harold war tot. Und wenn sie zu Fuß gehen mußte, würde eres wissen und jemanden schicken, der sie abholte.

Harold hatte auf sie geschossen! Harold hatte versucht, sie umzubringen!

Immer wieder mußte sie daran denken, so gern sie es auch verdrängt hätte. Ihr Verstand spielte damit wie ein Hund mit einem Knochen. So hätte es nicht sein dürfen. In der ersten Nacht nach der Explosion war ihr Flagg im Traum erschienen, als Harold endlich bereit war, eine Weile zu rasten. Flagg hatte ihr im Traum gesagt, daß er Harold bei ihr lassen wolle, bis sie auf dem Western Slope waren, fast in Utah. Dann wolle er ihn schnell und schmerzlos durch einen Unfall beseitigen. Eine Ölspur. Über die Böschung. Kein Ärger, kein Schlamassel, keine Plage.

Aber es war nicht schnell und schmerzlos gewesen, und Harold hätte sie fast umgebracht. Die Kugel war zwei Zentimeter an ihrer Wange vorbeigesaust, und dennoch hatte sie sich nicht bewegen können. Sie war starr vor Schreck gewesen und hatte sich gefragt, wie er so etwas tun konnte, wie zugelassen werden konnte, daß er so etwas auch nur versuchte.

Sie hatte versucht, eine Begründung dafür zu finden, indem sie sich einredete, daß Flagg ihr nur Angst machen und sie daran erinnern wollte, zu wem sie gehörte. Aber das ergab keinen Sinn! Es war verrückt. Und selbst wenn es einen Sinn gehabt hätte... eine überzeugte, wissende innere Stimme sagte ihr, daß Flagg auf diesen Zwischenfall einfach nicht vorbereitet gewesen war. Sie versuchte, diese innere Stimme von sich zu weisen, wie man eine Tür verrammelt, wenn jemand Unerwünschter mit Mordlust in den Augen draußen steht. Aber es gelang ihr nicht. Die Stimme sagte ihr, daß sie nur durch blinden Zufall noch lebte. Daß Harolds Kugel sie genausogut zwischen den Augen hätte treffen können, und es wäre so oder so nicht Randall Flaggs Tun gewesen. Sie nannte die innere Stimme eine Lügnerin. Flagg wußte alles, wo der kleinste Sperling vom Himmel gefallen war...

Nein, das ist Gott, antwortete die Stimme unerbittlich. Gott, er ist nicht Gott. Du lebst nur durch blinden Zufall, und das bedeutet, es ist alles offen. Du schuldest ihm nichts. Wenn du willst, kannst du umkehren und zurückfahren.

Zurückfahren, das war ein Lachschlager. Wohinzurückfahren?

Zu diesem Thema hatte die Stimme wenig zu sagen; es hätte sie auch überrascht. Wenn der dunkle Mann auf tönernen Füßen stand, hatte sie diese Tatsache ein wenig zu spät herausgefunden.

Sie versuchte, sich statt auf die Stimme auf die kühle Schönheit des Wüstenmorgens zu konzentrieren. Aber die Stimme blieb, so leise und beharrlich, daß sie sie kaum wahrnahm:

Wenn er nicht gewußt hat, daß Harold ihm trotzen und versuchen würde, dich zu töten, was weiß er sonst noch alles nicht? Und wird es beim nächsten Mal auch wieder ein Fehlschuß sein? 

Aber, o Gott, es war zu spät. Um Tage, Wochen, vielleicht sogar Jahre zu spät. Warum hatte die innere Stimme gewartet, bis es nutzlos war, die Stimme zu erheben?

Und wie zur Bestätigung verstummte die Stimme, und der Morgen gehörte wieder ihr. Sie fuhr, ohne an etwas zu denken, die Augen auf die Straße vor ihr gerichtet. Die Straße, die nach Las Vegas führte. Die Straße, die zu ihmführte.

Am Nachmittag gab die Vespa den Geist auf. In ihren Eingeweiden klapperte und knirschte es, und der Motor blieb stehen. Nadine roch etwas Heißes, Abnormales, wie brennendes Gummi, aus dem Motorgehäuse. Die Geschwindigkeit sank von konstanten vierzig auf Schrittempo. Sie schob die Vespa auf die Standspur und trat den Starter ein paarmal, wußte aber, daß es keinen Zweck hatte. Sie hatte die Vespa gekillt. Sie hatte auf dem Weg zu ihrem Gatten vieles getötet. Sie war dafür verantwortlich, daß das ganze Komitee der Freien Zone samt allen geladenen Gästen bei der letzten explosiven Versammlung ausgelöscht worden war. Und da war Harold. Und, bin so frei nebenbei, Frannie Goldsmiths ungeborenes Kind.

Ihr wurde übel. Sie taumelte zur Leitplanke und erbrach ihr Frühstück. Sie fühlte sich heiß, wie im Delirium, und sehr elend, das einzige lebende Wesen in diesem Wüstenalptraum. Es war heiß... so heiß.

Sie drehte sich um und wischte sich den Mund. Die Vespa lag auf der Seite wie ein totes Tier. Nadine betrachtete sie noch ein paar Augenblicke, dann ging sie weiter. An Dry Lake war sie schon vorbei. Das bedeutete, daß sie am Straßenrand schlafen mußte, wenn niemand sie abholen kam. Mit Glück konnte sie am nächsten Morgen in Las Vegas sein. Und plötzlich wußte sie, daß der dunkle Mann sie zu Fuß gehen lassen würde. Hungrig und durstig und von der Sonne verbrannt sollte sie in Las Vegas ankommen, jede Erinnerung an ihr früheres Leben sollte erloschen sein. Die Frau, die an einer Privatschule in New England kleine Kinder unterrichtet hatte, würde fort sein, so tot wie Napoleon. Mit etwas Glück würde die leise Stimme, die in ihr nagte und quälte, als letzter Teil der alten Nadine sterben. Aber letztendlich würde natürlich auch der Teil erlöschen.

Sie ging weiter; der Nachmittag verrann. Schweiß lief ihr übers Gesicht. Wo die Straße und der verblichene Jeans -Himmel zusammenstießen, schimmerte Quecksilber. Sie knöpfte die Bluse auf, zog sie aus und ging nur im Büstenhalter weiter. Sonnenbrand? Na und? Offen gesagt, meine Liebe, das ist mir scheißegal.

Als es dämmerte, war ihre Haut so stark gerötet, daß sie um die Knochenwülste des Schlüsselbeins fast purpurfarben aussah. Die Abendkühle kam plötzlich, und sie zitterte. Jetzt fiel ihr ein, daß sie ihre Campingausrüstung bei der Vespa liegen gelassen hatte.

Sie sah sich suchend um, erblickte hier und da Autos, manche bis an die Kühlerfiguren zugeweht. Der Gedanke, in einem dieser Särge Schutz zu suchen, machte sie elend - schlimmer als der schreckliche Sonnenbrand.

Ich bin im Delirium, dachte sie.

Nicht, daß es eine Rolle gespielt hätte.

Sie beschloß, lieber die ganze Nacht nach Westen zu marschieren, als in einem dieser Autos zu schlafen. Wenn dies nur der Mittlere Westen wäre! Sie hätte dann eine Scheune, einen Heuschober oder ein Kleefeld finden können. Etwas Sauberes und Weiches. Hier draußen gab es nur die Straße, den Sand, die ausgedörrte Wüste. Sie strich das lange weiße Haar aus dem Gesicht und stellte betroffen fest, daß sie wünschte, sie wäre tot.

Jetzt war die Sonne hinter dem Horizont, der Tag genau zwischen Licht und Dunkelheit. Der Wind, der nun über sie strich, war tödlich kalt. Sie sah sich um und hatte plötzlich Angst.

Er war zu kalt.

Die Spitzkuppen waren zu dunklen Monolithen geworden. Die Sanddünen wirkten wie unheimliche umgestürzte Kolosse. Selbst die Kandelaberkakteen sahen aus wie die Skelettfinger von anklagenden Toten, die sich aus flachen Gräbern durch den Sand emporreckten.

Oben das kosmische Rad des Himmels.

Eine Songzeile fiel ihr ein, aus einem Stück von Dylan, kalt und trostlos: Hunted like a crocodile... ravaged in the corn...

Und dem dicht auf den Fersen ein anderer Song, von den Eagles, plötzlich furchterregend: I want to sleep in the desert tonight... with a million stars all around...

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