»Alles ruhig«, befahl Kachel. »Geister, habt ihr eine Botschaft für unsere Schwester und Musterschülern! Nadine Cross?«
Das Brett bewegte sich nicht. Nadine verspürte gelinde Verlegenheit.
»Lene-meene-kurze-Beene«, sagte das Mädchen, das Boris Karloff nachgeahmt hatte, mit einer gleichermaßen erfolgreichen BullwinkleMooseStimme. »Die Geister sprechen gleich«
Erneutes Kichern.
» Pssst!« befahl Kachel.
Nadine entschied, wenn die beiden anderen Mädchen nicht bald anfingen, das Brett zu bewegen, damit es die alberne Botschaft schrieb, die sie für sie hatten, würde sie es selbst machen - es herumrücken, damit es etwas Kurzes und Dummes buchstabierte, beispielsweise BUH!, damit sie die Hausaufgaben bekommen und gehen konnte.
Als sie gerade versuchen wollte, das zu machen, bewegte sich der Bleistift heftig unter ihren Fingern. Der Bleistift hinterließ einen dunklen diagonalen Riß auf der frischen Seite.
»He! Nicht grob werden, Geister«, sagte Kachel mit vage nervöser Stimme. »Warst du das, Nadine?«
»Nein.«
»Janey.«
»Hm -hmm. Ehrlich.«
Das Brett zuckte wieder, so daß ihre Finger beinahe abrutschten, und raste in die linke obere Ecke des Papiers.
»Puh«, sagte Nadine. »Habt ihr gespürt...«
Sie spürten es, alle, obwohl weder Kachel noch Jane Fargood später mit ihr darüber sprechen wollten. Nach diesem Abend war sie auch in keinem Zimmer der beiden Mädchen mehr besonders gern gesehen gewesen. Danach war es, als hätten sie beide etwas Angst gehabt, ihr zu nahe zu kommen.
Plötzlich fing das Brett an, unter ihren Fingern zu vibrieren; es war, als würde man den Kühler eines Autos im Leerlauf anfassen. Die Vibration war konstant und beängstigend. So eine Bewegung konnte kein Mensch in aller Heimlichkeit erzeugen.
Die Mädchen waren still geworden. Sie hatten alle einen eigentümlichen Gesichtsausdruck, den Gesichtsausdruck von Menschen, die an einer Seance teilgenommen haben, bei der etwas unerwartet Echtes passiert ist - wenn der Tisch sich bewegt, wenn unsichtbare Knöchel an die Wand klopfen, wenn rauchgraues Ektoplasma aus den Nasenlöchern des Mediums quillt. Es ist ein blasser, abwartender Gesichtsausdruck, halb wird gewünscht, das Angefangene möge aufhören, halb, es soll weitergehen. Es ist ein Ausdruck grausiger, verwirrter Aufregung... und mit diesem speziellen Ausdruck sieht das menschliche Gesicht dem Totenschädel, der einen halben Zentimeter unter der Haut verborgen ist, am ähnlichsten.
»Aufhören!« rief das Mädchen mit dem Pferdegesicht plötzlich. »Hört sofort auf, sonst werdet ihr es bereuen!«
Und Jane Fargood schrie mit panischer Stimme: » Ich kann die Finger nicht wegnehmen!«
Jemand stieß einen kurzen unterdrückten Schrei aus. Im selben Augenblick wurde Nadine bewußt, daß ihre Finger auch an dem Brett festklebten. Die Armmuskeln wölbten sich vor Anstrengung, die Fingerspitzen von dem Brett wegzuziehen, aber sie blieben, wo sie waren.
»Also gut, der Spaß ist vorbei«, sagte Kachel mit gepreßter, furchtsamer Stimme. »Wer...«
Und plötzlich fing der Bleistift an zu schreiben.
Er bewegte sich blitzschnell, zog ihre Finger mit sich, zerrte ruckartig ihre Arme herum, was komisch gewirkt hätte, wären da nicht die hilflosen, gequälten Mienen auf den Gesichtern aller drei Mädchen gewesen. Nadine dachte später, es war, als hätten ihre Arme in einer Trainingsmaschine festgesteckt. Die vorherigen Botschaften waren mit steifen, krakeligen Buchstaben geschrieben gewesen - Botschaften, die aussahen, als hätte ein Siebenjähriger sie verfaßt. Diese Buchstaben waren ebenmäßig und nachdrücklich... große, schräge Großbuchstaben, die über das weiße Papier verliefen. Sie hatten etwas Übermütiges und Teuflisches.
NADINE, NADINE, NADINE, schrieb der wirbelnde Bleistift. WIE ICH NADINE LIEBE DASS SIE MEIN IST LIEBE MEINE NADINE MEINE KÖNIGIN WENN DU WENN DU WENN DU REIN FÜR MICH BIST WENN DU UNBERÜHRT FÜR MICH BIST WENN DU WENN DU TOT FÜR MICH BIST TOT DU BIST
Der Bleistift zuckte, raste und fing weiter unten wieder an.
DU BIST TOT WIE DIE ANDEREN DU BIST IM BUCH DER TOTEN ZUSAMMEN MIT DEN ANDEREN NADINE IST TOT WIE SIE NADINE VERFAULT WIE SIE WENN SIE NICHT
Er hörte auf. Pulsierte. Nadine dachte, hoffte - oh, hoffte so sehr -, daß es vorbei wäre, aber dann raste er an den Rand des Papiers und fing noch einmal an. Jane kreischte kläglich. Die Gesichter der anderen Mädchen waren erschrockene weiße Os des Staunens und der Fassungslosigkeit.
DIE WELT DIE WELT BALD IST DIE WELT TOT UND WIR WIR WIR NADINE NADINE ICH ICH ICH WIR WIR SIND WIR SIND WIR
Jetzt schienen die Buchstaben über die Seite zu schreien:
WIR SIND IM HAUS DER TOTEN NADINE
Das letzte Wort heulte in zentimetergroßen Buchstaben über das Papier, dann rutschte der Bleistift vom Brett und ließ dabei eine lange Graphitspur wie einen Schrei zurück. Er fiel auf den Boden und zerbrach in zwei Hälften.
Es folgte ein Augenblick erschrockenen, reglosen Schweigens, dann fing Jane Fargood schrill und hysterisch zu weinen an. Es hatte damit geendet, daß die Herbergsmutter nach oben gekommen war und nach dem Rechten gesehen hatte, fiel Nadine wieder ein, und sie hatte schon die Krankenstation wegen Jane anrufen wollen, als das Mädchen sich endlich wieder zusammenreißen konnte. Rachel Timms hatte die ganze Zeit über blaß und stumm auf dem Bett gesessen. Als die Herbergsmutter und die meisten anderen Mädchen (auch das Mädchen mit dem Pferdegesicht, das zweifellos der Überzeugung war, daß eine Prophetin im eigenen Land nichts gilt) gegangen waren, fragte sie Nadine mit tonloser, seltsamer Stimme: »Wer war es, Nadine?«
»Ich weiß nicht«, hatte Nadine aufrichtig geantwortet. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung gehabt. Damals nicht.
»Du hast die Handschrift nicht erkannt?«
»Nein.«
»Nun, vielleicht nimmst du einfach diese Botschaft... diese Botschaft aus dem Jenseits... und gehst auf dein Zimmer.«
»Du hast mich aufgefordert, mich dazuzusetzen!« fuhr Nadine sie an. »Woher sollte ich wissen, daß so... so etwas passieren würde? Ich habe mitgemacht, weil ich nicht unhöflich sein wollte, Herrgott noch mal!«
Rachel besaß wenigstens soviel Anstand, daraufhin zu erröten; sie hatte sich sogar ein bißchen entschuldigt. Aber danach hatte Nadine das Mädchen kaum noch zu Gesicht bekommen; dabei war Rachel Timms eines der wenigen Mädchen gewesen, denen sich Nadine in den ersten drei Semestern am College wirklich verbunden gefühlt hatte.
Bis heute hatte sie niemals mehr eine dieser dreieckigen Spinnen aus Hartfaser angefaßt.
Aber die Zeit war... nun, die Zeit war endlich gekommen, oder nicht? Ja, wahrhaftig.
Nadine setzte sich mit klopfendem Herzen auf die Picknickbank und drückte die Finger leicht gegen zwei der drei Seiten des Bretts. Sie spürte fast auf der Stelle, wie es sich unter ihren Fingerspitzen zu bewegen anfing, und mußte an ein Auto mit Motor im Leerlauf denken. Aber wer war der Fahrer? Wer war er wirklich? Wer würde einsteigen, die Tür zuschlagen, die braungebrannten Hände um das Lenkrad klammern? Wessen Fuß würde brutal und gewichtig, mit einem alten, zerschlissenen Cowboystiefel angetan, aufs Gaspedal treten und sie fortbringen... wohin?
Fahrer, wohin bringst du uns?
Nadine, die weder auf Hilfe noch auf Erlösung hoffte, saß aufrecht auf der Bank am Fuß des Flagstaff Mountain in der schwarzen Senke des frühen Morgens, riß die Augen auf und empfand das Gefühl, an der Grenze zu stehen, stärker denn je. Sie sah nach Osten, spürte seine Präsenz aber hinter sich, wie sie sich heftig an sie drängte, sie hinabzog wie an den Füßen einer toten Frau festgebundene Gewichte: Flaggs dunkle Präsenz, die in konstanten, unentrinnbaren Wogen übermittelt wurde.
Irgendwo war der dunkle Mann in der Nacht unterwegs, und sie sprach die drei Worte wie eine Beschwörung aller bösen Geister aus, die jemals existierten - Beschwörung und Aufforderung zugleich: