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»A thousand stars in the sky... make me realize... you are the one love that I'll adore... tell me you love me... tell me you're mine, all mine...«

Heute abend standen mehr als tausend Sterne am Himmel, aber es waren keine Sterne der Liebenden. Kein sanft leuchtendes Netz der Milchstraße. Hier, eine Meile über dem Meeresspiegel, waren sie grell und grausam wie eine Milliarde Löcher in schwarzem Samt, Löcher von Gottes Spitzhacke. Es waren die Sterne von Hassenden, und weil das so war, fühlte Harold sich berufen, heute nacht etwas auf sie zu wünschen. Sternenglanz, Sternenschein, laß den Wunsch erfüllet sein. Fallt alle tot um.

Er saß stumm mit zurückgelehntem Kopf da, ein düsterer Astronom. Harolds Haar war länger denn je, aber nicht mehr schmutzig und verfilzt und strähnig. Er roch nicht mehr wie ein Furz im Heuhaufen. Und weil er die Süßigkeiten wegließ, gingen sogar die Pickel weg. Und durch die harte Arbeit und das viele Laufen nahm er ab. Er sah ziemlich gut aus. In den vergangenen Wochen war es häufig vorgekommen, daß er an einem Spiegel vorbeiging und verblüfft über die Schulter sah, als hätte er einen völlig Fremden erblickt. Er regte sich im Sessel. Ein Buch lag auf seinem Schoß, ein großer Foliant mit marmoriertem Rücken und Kunstledereinband. Wenn er weg war, versteckte er es hinter einem lockeren Mauerstein im Haus. Wenn jemand das Buch fand, wäre der Traum in Boulder für ihn ausgeträumt. Ein Wort stand in Goldbuchstaben auf dem Umschlag, dieses Wort hieß HAUPTBUCH. Es war das Tagebuch, das er angefangen hatte, nachdem er das von Fran gelesen hatte. Die ersten Seiten waren schon von einem Rand zum anderen mit seiner engen Handschrift bedeckt. Keine Absätze, nur ein solider Schriftblock, eine Absonderung des Hasses wie Eiter aus einem Abszeß. Er hätte nicht gedacht, daß er soviel Haß in sich haben könnte. Man sollte meinen, der Strom müßte mittlerweile ausgetrocknet sein, aber es schien, als hätte er ihn gerade erst angebohrt. Wie in dem alten Witz. Warum war der ganze Boden nach Güsters letzter Schlacht weiß? Weil die Indianer unaufhörlich kamen und kamen und kamen...

Und warum haßte er?

Er richtete sich gerade auf, als wäre die Frage von außen gekommen. Es war eine schwere Frage, außer vielleicht für ein paar Wenige, ein paar Auserwählte. Hatte nicht Einstein gesagt, es würde nur sechs Menschen auf der Welt geben, die die ganze Bedeutung von E= mc² begriffen? Und was war mit der Gleichung in seinem eigenen Kopf? Harolds Relativität? Oh, darüber könnte er zweimal so viele Seiten füllen, wie er bisher geschrieben hatte, und immer obskurer und geheimnisvoller werden, bis er sich schließlich in seinem inneren Räderwerk verlor, ohne auch nur in die Nähe der Hauptfeder zu gelangen. Vielleicht... vergewaltigte er sich selbst. War es das? Jedenfalls dicht dran. Ein obszöner, endloser Akt der Unzucht. Die Indianer kamen und kamen.

Er würde Boulder bald verlassen. Ein Monat oder zwei, mehr nicht. Bis er sich klar war, wie er einige offene Rechnungen begleichen konnte. Dann würde er nach Westen gehen. Und wenn er dort war, würde er den Mund aufmachen und gründlich über die Lage hier auspacken. Er würde ihnen erzählen, was in den öffentlichen Sitzungen los war und, noch wichtiger, in den nichtöffentlichen. Er war sicher, daß man ihn ins Komitee der Freien Zone wählen würde. Sie würden ihn willkommen heißen, und der Mann, der drüben die Macht hatte, würde ihn reichlich belohnen... nicht indem er seinem Haß ein Ende setzte, sondern indem er ihm das perfekte Vehikel dafür gab, einen Haß-Cadillac, ein Angstmobil, lang und dunkel glänzend. Er würde einsteigen und seinen Haß unter sie fahren. Er und Flagg würden diese elende Ansiedlung auseinandertreten wie einen Ameisenhaufen. Aber zuerst würde er mit Redman abrechnen, der ihn belogen und ihm die Frau gestohlen hatte.

Ja, Harold, aber warum haßt du?

Nein; darauf gab es keine zufriedenstellende Antwort, nur eine Art... Zusatzvermerk zum Haß selbst. War es überhaupt eine faire Frage? Er war der Meinung, daß nein. Ebensogut konnte man eine Frau fragen, warum sie ein behindertes Kind zur Welt gebracht hatte. Es hatte eine Zeit gegeben, eine Stunde oder einen Augenblick, als er daran gedacht hatte, den Haß über Bord zu werfen. Das war gewesen, als er Frannies Tagebuch gelesen und erfahren hatte, dass sie unwiderruflich Stu Redman verfallen war. Diese plötzliche Erkenntnis hatte auf ihn gewirkt wie ein kalter Wasserguß auf eine Schnecke, die zur kleinen Kugel wird statt zum ausgebreiteten, tastenden Organismus. In dieser Stunde oder in diesem Augenblick hatte er gewußt, daß er einfach  akzeptieren konnte, was war, und dieses Wissen hatte ihn entzückt und entsetzt zugleich. In dieser Zeitspanne hatte er gewußt, daß er sich in einen anderen Menschen verwandeln konnte, in einen neuen Harold Lauder, der durch das scharfe Skalpell der Supergrippe aus dem alten geklont worden war.

Er begriff deutlicher als die anderen, daß es in der Freien Zone Boulder genau darum ging. Die Leute waren anders, als sie gewesen waren. Die Gesellschaft dieser kleinen Stadt war mit keiner anderen amerikanischen Gesellschaft vor der Seuche vergleichbar. Sie sahen das nicht, weil sie nicht wie er außerhalb der Grenzen standen. Männer und Frauen lebten offensichtlich ohne den Wunsch zusammen, die Institution Ehe wieder einzuführen. Ganze Gruppen lebten in kleinen Untergruppen wie in Kommunen zusammen. Es gab wenig Streit. Die Leute schienen miteinander auszukommen. Und, am seltsamsten, keiner schien die tiefe religiöse Bedeutung der Träume zu erkennen... und der Seuche selbst. Boulder selbst war eine geklonte Gesellschaft, eine  Tabula, die so  rasa war, daß sie die neugewonnene Schönheit nicht empfanden.

Harold empfand sie, und er haßte sie.

Weit drüben hinter den Bergen war noch eine geklonte Kreatur. Ein Stück der dunklen Bösartigkeit, eine Krebszelle aus dem sterbenden Leib der alten Gesellschaft, ein einsamer Vertreter des Karzinoms, das die alte Gesellschaft bei lebendigem Leibe gefressen hatte. Eine einzige Zelle, die aber schon angefangen hatte, sich zu reproduzieren und weitere wilde Zellen zu erzeugen. Für die Gesellschaft bedeutete das den alten Kampf, das Bemühen des gesunden Gewebes, den bösartigen Eindringling abzuwehren. Aber für jede individuelle Zelle stellte sich die alte, alte Frage, die bis zum Garten Eden zurückreichte - aß man den Apfel oder ließ man es sein? Dort drüben, im Westen, aßen sie bereits Unmengen Apfelkuchen und Apfelkompott. Die Assassinen von Eden waren da, die dunklen Füsiliere.

Und er selbst hatte im Angesicht des Wissens, daß es ihm freistand zu  akzeptieren, was war, die neue Chance für eine menschliche Gesellschaft abgelehnt. Sie zu ergreifen, wäre gleichbedeutend mit Selbstmord gewesen. Die Gespenster aller Demütigungen, die er je erlitten hatte, bäumten sich dagegen auf. Seine gemordeten Träume und Ambitionen lebten auf unheimliche Weise wieder auf und fragten, ob er sie wirklich so einfach vergessen konnte. In der neuen Gesellschaft der Freien Zone konnte er nur Harold Lauder sein. Dort drüben aber ein Prinz.

Das Bösartige lockte ihn. Es war ein dunkler Jahrmarkt - Riesenräder mit ausgeschaltetem Licht, die sich über einer schwarzen Landschaft drehten, ein niemals endender Zirkus mit Freaks wie ihm, und im Hauptzelt fraßen die Löwen die Zuschauer. Die mißtönende Musik des Chaos sprach ihn an.

Er schlug sein Tagebuch auf und schrieb im Licht der Sterne mit fester Hand.

16. August 1990 (frühmorgens).

Es heißt, die beiden großen Sünden der Menschheit seien Stolz und Haß. Wirklich? Ich ziehe es vor, beide für große Tugenden zu halten. Auf Haß und Stolz verzichten hieße, sich zugunsten der Welt zu verändern. Edler ist es, wenn ich sie mir zu eigen mache und ihnen freien Lauf lasse, denn dann muß sich die Welt zu meinen Gunsten verändern. Das Leben ist ein großes Abenteuer.

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