8.Juli 1990
Es ist spät, ich bin schon wieder müde, aber ich sollte versuchen, soviel wie möglich aufzuschreiben, bevor mir die Augen einfach ZUFALLEN. Harold hat sein Schild vor einer Stunde fertigbekommen (reichlich mißmutig, muß ich sagen) und stellte es auf den Rasen des Seuchenzentrums von Stovington. Stu half ihm dabei und liess sich auch von Harolds gemeinen Sticheleien nicht aus der Ruhe bringen.
Ich hatte mich schon auf eine Enttäuschung eingerichtet. Ich habe nie geglaubt, daß Stu lügt, und Harold wahrscheinlich auch nicht. Darum war ich sicher, daß alle tot waren, aber es war trotzdem ein beunruhigendes Erlebnis, und ich mußte weinen. Ich konnte nichts dafür.
Aber ich war nicht die einzige, die beunruhigt war. Als Stu die Anlage sah, wurde er totenblaß. Er hatte ein kurzärmeliges Hemd an, und ich konnte sehen, daß er Gänsehaut an den Armen hatte. Seine Augen sind normalerweise blau, aber sie waren schieferfarben geworden, wie das Meer an einem grauen Tag.
Er deutete in den dritten Stock und sagte: »Das war mein Zimmer.«
Harold drehte sich zu ihm um, ich konnte sehen, wie er sich darauf vorbereitete, eine seiner patentierten Harold-LauderKlugscheißereien von sich zu geben, aber dann sah er Stus Gesicht und blieb still. Ich glaube, das war ausgesprochen klug von ihm. Nach einer Weile sagt Harold: »Gehen wir rein und sehen uns um.«
»Wozu das?« antwortet Stu fast hysterisch, beherrscht sich aber eisern. Das hat mir Angst gemacht, denn normalerweise ist er so kühl wie Eiswasser. Man muß nur dafür sorgen, daß Harold es nicht schafft, ihn auf die Palme zu bringen.
»Stuart...«, fängt Glen an, aber Stu unterbricht ihn mit:
» Wozu? Seht ihr denn nicht, daß alle tot sind? Keine Lamettaträger, kein Fußvolk, niemand. Glaubt mir«, sagte er, »wenn sie hier wären, hätten sie uns schon in Empfang genommen. Wir wären in den weißen Zimmern eingesperrt wie beschissene Meerschweinchen.« Dann sieht er mich an und sagt: »Tut mir leid, Fran - ich wollte das nicht sagen. Ich bin wohl durcheinander.« »Also, ich geh' rein«, sagt Harold. »Wer kommt mit?« Aber ich konnte sehen, daß Harold zwar versuchte, KÜHN & STARK zu sein, aber selbst Angst hatte. Glen wollte mit ihm gehen, aber Stu sagte: »Geh auch rein, Fran. Überzeug dich selbst.«
Ich wollte sagen, daß ich draußen bei ihm bleiben würde, weil er so nervös ausgesehen hat (und weil ich eigentlich gar nicht rein wollte), aber das hätte wieder Ärger mit Harold gegeben, daher sagte ich okay.
Wenn wir, Glen und ich, Zweifel an Stus Geschichte gehabt hätten - wir hätten sie verwerfen können, sobald wir das Tor aufgemacht hatten. Es war der Geruch. Dasselbe kann man in allen größeren Städten riechen, durch die wir kommen, ein Geruch wie verfaulte Tomaten, Herrgott, ich weine schon wieder, aber es ist nicht recht, daß Menschen nicht nur sterben, sondern dann auch noch stinken wie
Warte
(später)
Also, ich habe mein zweites GROSSES WEINEN des Tages hinter mir, was ist nur mit der putzigen Fran Goldsmith los, dem kleinen Sonnenscheinchen, das Stahlnägel kauen und Teppichklammern ausspucken konnte, wie das Sprichwort sagte, ha-ha. Keine Tränen mehr heute nacht, das ist ein Versprechen.
Ich ging trotzdem rein, morbide Neugier, schätze ich. Ich weiß nicht, wie es den anderen ging, aber ich wollte das Zimmer sehen, in dem man Stu gefangengehalten hatte. Und nicht nur der Geruch war erschreckend, sondern auch die Tatsache, daß es nach der Hitze draußen so kühl hier drin war. Jede Menge Granit und Marmor, wahrscheinlich perfekt isoliert. Im zweiten Stock war es wärmer, aber unten war der Geruch... und die Kühle... wie eine Gruft. IGITT.
Und es war gruselig, wie in einem Spukhaus - wir drei drängten uns aneinander wie Schafe, und ich war froh, daß ich mein Gewehr hatte, auch wenn es nur Kaliber .22 war. Unsere Schritten hallten zu uns zurück, als würde uns jemand folgen, ja, und ich mußte wieder an den Traum denken, in dem der Mann im schwarzen Umhang erscheint. Kein Wunder, daß Stu nicht mit uns kommen wollte. Schließlich kamen wir zu den Fahrstühlen und fuhren in den zweiten Stock hinauf. Dort waren nur Büros... und mehrere Leichen. Der dritte Stock war wie in einem Krankenhaus, aber alle Zimmer hatten luftdichte Türen (Luftschleusen haben Glen und Harold sie genannt) und spezielle Sichtfenster. Da oben waren viele Leichen, in den Zimmern und auch auf den Fluren. Kaum Frauen. Ich frage mich, ob man am Ende versucht hat, die Frauen zu evakuieren. So vieles werden wir nie erfahren. Aber wozu auch?
Jedenfalls fanden wir am Ende des Flurs, der vom Hauptkorridor abzweigte, wo die Fahrstuhlschächte waren, ein Zimmer, dessen Luftschleuse offenstand. Dort lag ein Toter, aber er war kein Patient (die trugen alle weiße Krankenhausschlafanzüge), und er war sicher nicht an der Grippe gestorben. Er lag in einer großen getrockneten Blutlache und sah aus, als hätte er noch im Sterben versucht, aus dem Zimmer zu kriechen. Ein zertrümmerter Stuhl lag dort, und alles war durcheinander, als hätte ein Kampf stattgefunden. Glen sah sich lange um, dann sagte er: »Ich glaube, wir sollten dieses Zimmer Stu gegenüber nicht erwähnen. Ich glaube, er war hier drinnen dem Tod sehr nahe.«
Ich betrachtete den ausgestreckten Leichnam und gruselte mich mehr denn je.
»Was meinen Sie damit?« fragte Harold, und sogar seine Stimme klang gedämpft. Eines der wenigen Male, daß sie sich einmal nicht so anhörte, als würde Harold vor einem aufmerksam lauschenden Auditorium reden.
»Ich glaube, dieser Mann hatte die Absicht, Stuart zu töten«, sagte Glen, »und Stu hat ihn irgendwie überrumpelt.«
»Aber warum?« fragte ich. »Warum wollte man Stu töten, wenn er immun war? Das ist doch Unsinn!«
Er sah mich an, und seine Augen waren furchteinflößend. Sie sahen fast tot aus, wie Fischaugen.
»Das spielt keine Rolle, Fran«, sagte er. »Wie es aussieht, sind Sinn und Zweck hier bedeutungslos gewesen. Diesen Leuten ging es nur noch darum, zu vertuschen - eine Geisteshaltung, die in jedem von uns ist. Diese Menschen hier glaubten so blind und fanatisch an ihre Sache, wie bestimmte religiöse Gruppen an die göttliche Herkunft Jesu. Denn für solche Menschen ist die Notwendigkeit zu vertuschen auch dann noch die einzig wichtige, wenn der Schaden schon eingetreten ist. Ich frage mich, wie viele Immune man in Atlanta und San Francisco und dem Viral Center in Topeka ermordet hat, bevor die Seuche schließlich die Mörder getötet und ihrem Gemetzel ein Ende bereitet hat. Dieses Arschloch da? Ich bin froh, daß er tot ist. Mir tut nur Stu leid, der seinetwegen wahrscheinlich den Rest seines Lebens Alpträume haben wird.«
Und kannst du dir vorstellen, was Glen Bateman dann gemacht hat? Dieser nette Mann, der die schrecklichen Bilder malt? Er ging hin und trat dem Toten ins Gesicht. Harold gab ein gedämpftes Grunzen von sich, als wäre er getreten worden. Dann zog Glen den Fuss wieder zurück.
»Nein!« schreit Harold, aber Glen trat den Toten trotzdem noch einmal. Dann drehte er sich um und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, aber seine Augen hatten wenigstens nicht mehr diesen gräßlichen toten Ausdruck.
»Kommt«, sagt er. »Verschwinden wir. Stu hatte recht. Hier sind alle tot.«
Also gingen wir raus; Stu saß mit dem Rücken am Eisentor in der hohen Mauer, die um das Institut herum verlief, und ich wollte... los doch, Frannie, wenn du deinem Tagebuch nicht alles anvertrauen kannst, wem dann! Ich wollte zu ihm laufen, ihn küssen und ihm sagen, wie ich mich schämte, weil wir ihm nicht geglaubt hatten, mich schämte, weil wir unablässig davon geredet hatten, wie schlimm es uns ergangen war, als die Seuche ausgebrochen war, und Stu hatte kaum etwas gesagt, obwohl er die ganze Zeit gewußt hatte, daß der Mann ihn beinahe umgebracht hätte.