An diesem Morgen wandten sie sich nach Osten. Zu Mittag aßen sie an einer Kreuzung nicht weit von der Grenze zwischen Oklahoma und Kansas entfernt. Es war der 7. Juli, ein heißer Tag. Als sie an der Kreuzung hielten, brachte Tom sein Rad wie gewohnt schlitternd zum Stillstand. Er betrachtete ein Verkehrsschild, dessen Pfahl in einem Blecheimer voller Beton steckte, der zur Hälfte im weichen Boden am Straßenrand eingegraben worden war. Auch Nick betrachtete das Schild. Auf dem Schild stand: SIE VERLASSEN JETZT HARPER COUNTY, OKLAHOMA. HIER BEGINNT WOODS COUNTY, OKLAHOMA.
»Das kann ich lesen«, sagte Tom, und hätte Nick hören können, wäre er teils amüsiert und teils gerührt gewesen, wie Tom mit aufgeregt und schrill deklamierender Stimme verkündete:» Sie gehen raus aus Harper County. Sie kommen nach Woods County.« Er drehte sich zu Nick um. »Wissen Sie was, Mister?«
Nick schüttelte den Kopf.
»Bin in meinem Leben noch nie aus Harper County raus gewesen, meine Güte, nein, nicht Tom Cullen. Aber mein Daddy hat mich mal hierher gebracht und mir dieses Schild gezeigt. Hat mir gesagt, wenn er mich je auf der andern Seite davon erwischen würde, würde er mich windelweich prügeln. Er erwischt uns doch wohl nicht drüben in Woods County? Glauben Sie, er erwischt uns?«
Nick schüttelte nachdrücklich den Kopf.
»Ist Kansas City in Woods County?«
Nick schüttelte wieder den Kopf.
»Aber wir gehen doch nach Woods County, ehe wir woanders hingehen, oder nicht?«
Nick nickte.
Toms Augen leuchteten. »Ist es die Welt?«
Nick verstand nicht. Er runzelte die Stirn... zog die Brauen hoch... zuckte die Achseln.
»Die Welt ist das, was ich meine«, sagte Tom. »Ziehen wir in die Welt, Mister?« Tom zögerte, dann fragte er voll zögerndem Ernst:
»Ist Woods das Wort für Welt?«
Nick nickte langsam.
»Okay«, sagte Tom. Er betrachtete das Schild noch einen Augenblick, dann wischte er sich das rechte Auge ab, aus dem eine einzige Träne gekullert war. Er sprang wieder auf sein Rad. »Okay, fahren wir.« Er fuhr ohne ein weiteres Wort über die County-Grenze, und Nick folgte ihm.
Sie überquerten die Grenze nach Kansas, kurz bevor es zu dunkel zum Weiterfahren wurde. Nach dem Essen war Tom mürrisch und müde geworden; er wollte mit seiner Tankstelle spielen. Er wollte fernsehen. Er wollte nicht mehr radfahren, weil sein Popo weh tat. Er hatte keinen Begriff von Staatengrenzen und teilte Nicks Hochgefühl nicht, als sie an einem weiteren Schild vorbeikamen, auf dem stand: WILLKOMMEN IN KANSAS. Inzwischen war es so düster, daß die weißen Buchstaben wie Gespenster über dem braunen Schild zu schweben schienen.
Sie schlugen eine Viertelmeile jenseits der Grenze ihr Lager auf - unter einem Wasserturm auf drei hohen Stahlbeinen, der wie ein marsianisches Raumschiff von H. G. Wells aussah. Tom war kaum in den Schlafsack gekrochen, da schlief er schon ein. Nick blieb noch eine Weile sitzen und beobachtete, wie die Sterne allmählich erstrahlten. Das Land war völlig dunkel und - für ihn - vollkommen still. Kurz bevor er selbst in den Schlafsack kroch, flatterte eine Krähe auf einen Zaunpfosten in der Nähe und schien ihn zu beäugen. Ihre kleinen schwarzen Augen waren von Halbkreisen wie Blut umgeben - Spiegelungen des aufgedunsenen orangefarbenen Sommermonds, der stumm aufgegangen war. Die Krähe hatte etwas an sich, das Nick nicht gefiel; er fühlte sich plötzlich unbehaglich. Er fand einen großen Erdklumpen und warf ihn nach der Krähe. Sie schien ihm einen haßerfüllten Blick zuzuwerfen, flog flatternd auf und verschwand in der Dunk elheit.
In dieser Nacht träumte Nick von dem Mann ohne Gesicht, der auf dem hohen Dach stand, die Hände nach Osten ausgestreckt, und dann von Mais Mais, der höher war als er selbst - und von Musik. Aber diesmal wußteer, daß es Musik war, und er wußte, daß es eine Gitarre war. Er erwachte kurz vor Tagesanbruch mit schmerzhaft voller Blase und hörte noch ihre Worte in den Ohren klingen: Man nennt mich Mutter Abagail... du kannst jederzeit zu mir kommen.
Am Spätnachmittag fuhren sie auf dem Highway 160 durch Comanche County und saßen plötzlich erstaunt auf ihren Rädern, als sie eine kleine Büffelherde - insgesamt vielleicht ein Dutzend Tiere - auf der Suche nach gutem Gras gelassen auf der Fahrbahn hin und her stapfen sahen. An der Nordseite der Straße war ein Stacheldrahtzaun gewesen, aber den hatten die Büffel offenbar niedergetrampelt.
»Was sind denn das für welche?« fragte Tom ängstlich. »Kühe sind das nicht!«
Und weil Nick nicht sprechen und Tom nicht lesen konnte, konnte Nick es ihm nicht sagen. Es war der 5.Juli 1990, und in dieser Nacht schliefen sie auf flachem Farmland vierzig Meilen westlich von Deerhead.
Es war der 9. Juli, und sie aßen ihr Mittagessen im Schatten einer alten, ehrwürdigen Ulme im Vorgarten eines Farmhauses, das teilweise niedergebrannt war. Tom aß mit einer Hand Würstchen aus einer Blechdose, mit der anderen fuhr er ein Auto in seine Tankstelle und wieder heraus. Und dabei sang er immer wieder den Refrain eines bekannten Songs. Nick kannte die Lippenbewegungen auswendig: » Baby, can you dig your man - he's a right -eous mayun - baby, can you dig your man?«
Nick war deprimiert, und die Unermeßlichkeit des Landes erfüllte ihn mit Ehrfurcht; vorher war ihm nie klar geworden, wie einfach es doch war, den Daumen auszustrecken und zu wissen, daß einem früher oder später das Gesetz des Zufalls zu Hilfe kommen würde. Ein Auto hielt an, für gewöhnlich mit einem Mann am Steuer, der nicht selten eine Bierdose gemütlich zwischen die Beine geklemmt hatte. Er fragte einen, wohin man wollte, und man gab ihm einen Zettel, den man griffbereit in der Brusttasche hatte, einen Zettel, auf dem stand:
»Hallo, mein Name ist Nick Andres. Ich bin leider taubstumm. Ich will nach - Vielen Dank fürs Mitnehmen. Ich kann von den Lippen lesen.«
Und die Sache war erledigt. Und wenn der Typ nichts gegen Taubstumme hatte (bei manchen Menschen war das der Fall, aber es war eine Minderheit), sprang man ins Auto und wurde dorthin gebracht, wohin man wollte, oder immerhin ein gutes Stück in die gewünschte Richtung. Das Auto fraß Meile um Meile und blies sie zum Auspuff wieder raus. Das Auto war eine Art Teleportation. Das Auto besiegte die Landkarte. Aber heute gab es kein Auto, obwohl das Auto auf vielen Straßen ein praktisches Transportmittel für Strecken von siebzig, achtzig Meilen gewesen wäre, wenn man vorsichtig fuhr. Und wenn man an ein Hindernis geriet, mußte man das Fahrzeug einfach stehenlassen, ein Stück zu Fuß gehen und sich dann ein anderes nehmen. Ohne Auto waren sie wie Ameisen, die auf der Brust eines gestürzten Riesen krabbelten, Ameisen, die endlos von einer Brustwarze zur anderen wuselten. Und daher wünschte und tagträumte Nick gleichermaßen, daß es wie in jenen sorglosen Tagen des Reisens per Anhalter sein würde, wenn sie endlich jemanden trafen (immer vorausgesetzt, es kam soweit): Das vertraute Funkeln von Chrom würde über den nächsten Hügel kommen, das Aufblitzen der Sonne, das das Auge blendete und zugleich erfreute. Ein ganz normales amerikanisches Auto, ein Chevy Biscain oder Fury III oder ein Pontiac Tempest, irgendeine herrliche Blechkarosse aus Detroit. In seinen Träumen war es nie ein Honda oder Mazda oder Yugo. Die amerikanische Schönheit würde an den Straßenrand fahren, und er würde einen Mann am Steuer sehen, einen Mann mit sonnengebräunten Ellbogen, der keck aus dem Fenster ragte. Dieser Mann würde lächeln und sagen: »Hallo, Jungs! Mensch, freu' ich mich, daß ich euch getroffen habe! Rein mit euch! Rein mit euch! Woll'n mal sehen, wohin wir kommen!«