Stu trank Bier. »Glauben Sie?«
»Klar doch.« Bateman trank selbst einen Schluck Bier, dann beugte er sich nach vorne und lächelte Stu grimmig an. »Ich will Ihnen einmal eine hypothetische Situation schildern, Mr. Stuart Redman aus dem Osten von Texas. Angenommen, wir haben Gemeinschaft A in Boston und Gemeinschaft B in Utica. Sie wissen voneinander, und alle kennen die Lage in den jeweiligen Gemeinschaften. Gesellschaft A ist in gutem Zustand. Sie wohnen im Luxus auf dem Beacon Hill, weil einer von ihnen zufällig Elektriker ist. Der Bursche hat gerade soviel Ahnung, daß er das Kraftwerk Beacon Hill wieder in Betrieb nehmen konnte. Es kommt hauptsächlich darauf an zu wissen, welche Knöpfe man drücken muß, nachdem das Kraftwerk automatisch abgeschaltet hat. Wenn es läuft, geht sowieso fast alles automatisch. Der Elektriker kann anderen Mitgliedern der Gesellschaft A beibringen, welche Knöpfe man drücken und auf welche Skalen man achtgeben muß. Die Turbinen laufen mit Öl, und das gibt es im Überfluß, weil alle, die es benützt haben, mausetot sind. Also läuft in Boston der Saft. Sie haben Wärme, wenn es kalt wird, Licht, so daß sie nachts lesen können, Kühlschränke, damit sie Scotch wie zivilisierte Menschen >on the rocks< trinken können. Das Leben ist fast idyllisch. Keine Umweltverschmutzung. Kein Drogenproblem. Kein Rassenproblem. Keine Verknappungen. Keine Probleme mit Geld oder Tausch; denn alle Waren, wenn auch nicht alle Dienstleistungen, stehen zur Verfügung, und zwar soviel, daß sie einer radikal dezimierten Gesellschaft die nächsten dreihundert Jahre reichen. Soziologisch gesehen müßte so eine Gruppe wahrscheinlich in ihrer Natur kommunal werden. Keine Diktatur. Kein guter Nährboden für Diktaturen, kein Mangel, kein Bedarf, keine Unsicherheit, Privatbesitz... das würde einfach nicht existieren. Wahrscheinlich würde Boston wieder von einer Art Stadtversammlung regiert werden.
Und nun zu Gemeinschaft B in Utica. Niemand kann das Kraftwerk in Betrieb nehmen. Alle Techniker sind tot. Sie brauchen lange, bis sie dahinterkommen, wie man etwas wieder zum Laufen bringen kann. Derweil frieren sie nachts, und der Winter steht vor der Tür, sie essen aus Dosen, es geht ihnen elend. Ein starker Mann übernimmt die Führung. Sie sind froh, daß sie ihn haben, denn sie sind verwirrt und krank und frieren. Soll er ruhig die Entscheidungen treffen. Was er natürlich auch tut. Er schickt jemand mit einer Bitte nach Boston. Könnten sie ihren verhätschelten Techniker nach Utica schicken, damit er dort das Kraftwerk auch wieder in Gang bringt? Die Alternative wäre ein langer und gefährlicher Zug nach Süden zum Überwintern. Und was macht Gemeinschaft A, wenn sie diese Nachricht hören?«
»Sie schicken den Mann?« fragte Stu.
»Heilands Sack, nein! Er könnte gegen seinen Willen festgehalten werden, was sogar ziemlich wahrscheinlich sein würde. In der nachgrippalen Welt wird technologisches Wissen Gold als begehrteste Tauschware ablösen. Diesbezüglich ist Gesellschaft A reich und Gesellschaft B arm. Also, was macht Gesellschaft B?«
»Ich würde sagen, sie ziehen nach Süden«, sagte Stu. Er grinste.
»Vielleicht sogar in den Osten von Texas.«
»Vielleicht. Vielleicht drohen sie den Menschen in Boston aber auch mit einem nuklearen Marschflugkörper.«
»Klar«, sagte Stu. »Sie bringen ihr Kraftwerk nicht in Gang, aber sie können vom Elendsviertel aus eine Atomrakete starten.«
Bateman sagte: »Ich persönlich würde mir nicht die Mühe mit der Rakete machen. Ich würde mir einfach überlegen, wie man den Sprengkopf abbekommt, und den dann in dem Kombi nach Boston fahren. Glauben Sie, das könnte gehen?«
»Keinen blassen Schimmer.«
»Und selbst wenn nicht, es stehen ja genügend konventionelle Waffen herum. Genau das ist es ja. Alles ist da und wartet nur darauf, benützt zu werden. Und wenn die Gemeinschaften A und B beide einen verhätschelten Techniker haben, fangen sie vielleicht sogar eine Art rostigen nuklearen Schlagabtausch wegen Religion oder Gebietsansprüchen oder einer hirnrissigen ideologischen Differenz an. Stellen Sie sich das nur einmal vor, anstatt sechs oder sieben Nuklearmächten in der Welt haben wir sechzig oder siebzig allein hier auf dem Gebiet der Vereinigten Staaten. Wäre die Situation anders, würde es ganz bestimmt zu Kämpfen mit Steinen und Stachelkeulen kommen. Tatsache ist aber, die ganzen alten Soldaten sind weggestorben, haben aber ihre Spielsachen dagelassen. Es ist schlimm, darüber nachzudenken, zumal so viele schlimme Dinge schon passiert sind... aber ich fürchte, es wäre durchaus denkbar.«
Schweigen herrschte zwischen ihnen. Weit entfernt konnten sie Kojak im Wald bellen hören, während sich der Tag um die Achse des Mittags drehte.
»Wissen Sie«, sagte Bateman schließlich, »ich bin im Grunde meines Herzens ein fröhlicher Mensch. Vielleicht, weil meine Befriedigungsschwelle sehr niedrig liegt. Darum war ich auf meinem Gebiet so unbeliebt. Ich habe meine Fehler; ich rede zuviel, wie Sie sicher festgestellt haben, und ich bin ein schrecklicher Maler, wie Sie sehen können, und ich konnte überhaupt nicht mit Geld umgehen. Manchmal habe ich die letzten drei Tage vor dem Zahltag von Erdnußbutterbroten gelebt, und ich war in Woodsville berüchtigt dafür, daß ich Sparbücher angelegt und das Geld eine Woche später wieder abgehoben habe. Aber ich habe mich davon nie unterkriegen lassen, Stu. Exzentrisch aber fröhlich, so bin ich. Der einzige Fluch meines Lebens sind Träume. Seit meiner Kindheit quälen mich erstaunlich lebhafte Träume. Viele waren ziemlich schrecklich. Als Junge waren es Trolle unter Brücken, die hochgegriffen und meinen Fuß gepackt haben, oder eine Hexe, die mich in einen Vogel verwandelt hat... Ich machte den Mund auf und wollte schreien, brachte aber nur ein paar Krächzer heraus. Haben Sie manchmal Alpträume, Stu?«
»Manchmal«, sagte Stu und dachte an Eider und wie Eider ihn manchmal in seinen Träumen verfolgte, durch Flure, die kein Ende hatten, sondern immer wieder im Kreis verliefen, die von kaltem Neonlicht erhellt wurden und voll waren von hallenden Echos.
»Dann wissen Sie es ja. Als Teenager hatte ich meinen regelmäßigen Anteil von Sex-Träumen, feuchte und trockene, aber dazwischen manchmal auch welche, in denen sich das Mädchen, mit dem ich zusammen war, in eine Kröte verwandelte, eine Schlange oder sogar in einen verwesenden Leichnam. Als ich älter wurde, hatte ich Träume vom Versagen, Träume der Erniedrigung, Träume von Selbstmord, Träume von einem gräßlichen Unfalltod. Am häufigsten war der, in dem ich langsam von einer Hebebühne zerquetscht wurde. Ich glaube, das alles sind einfache Abwandlungen des Troll-Traums. Ich bin der festen Überzeugung, daß solche Träume ein simples psychologisches Überdruckventil sind, und die Leute, die sie haben, sind mehr gesegnet als verflucht.«
»Wenn man es sich vom Hals schafft, staut es sich nicht auf.«
»Genau. Es gibt alle möglichen Traumdeutungen - die von Freud sind die berüchtigtsten -, aber ich war immer der Meinung, Träume haben eine schlichte abführende Wirkung, mehr nicht - sie sind ein Mittel der Psyche, ab und zu einmal Müll abzuladen. Und dass Menschen, die nicht träumen - oder nicht auf eine Weise träumen, an die sie sich nach dem Aufwachen erinnern können - unter einer Art geistiger Verstopfung leiden. Schließlich ist die einzige praktische Kompensation für einen Alptraum, wenn man aufwacht und erkennt, es war alles nur ein Traum.«
Stu lächelte.
»Aber in letzter Zeit habe ich einen ziemlich schlimmen Traum. Er kommt immer wieder, wie mein Traum, unter der Hebebühne zerquetscht zu werden, aber dagegen wirkt dieser wie ein Ammenmärchen. Er gleicht keinem Traum, den ich jemals gehabt habe, und doch in gewisser Weise auch wieder allen. Als wäre... als wäre er die Summe aller bösen Träume. Wenn ich aufwache, ist mir elend zumute, als wäre es gar kein Traum gewesen, sondern eine Vision. Ich weiß, wie verrückt sich das anhören muß.«