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Kapitel 6

Die halbe Nacht durch saßen wir am virtuellen Simulator. Ob es nun wirklich genutzt oder ob die Phagen etwas zu unseren Gunsten geändert hatten, dieses Mal jedenfalls endete alles erfolgreich. Uns glaubte man, abgerissen, schmutzig und hungrig, wie wir waren. Zuerst wurden wir einem strengen Verhör unterzogen, danach in ein Gefangenenlager überstellt, wo wir in einer Chemiefabrik arbeiteten. Nach zwei Wochen hatten wir herausgefunden, dass die Macht auf Inej von Fremden erobert worden war — entweder von den Tzygu oder den Brauni. Eben sie hatten die Versklavung der Menschheit geplant!

Ein Agent der Phagen nahm Verbindung mit uns auf und wir erstatteten ihm über alles Bericht. Nach zwei Stunden kamen Raumschiffe des Imperiums, setzen Luftlandetruppen aus und befreiten uns. Wir nahmen sogar an den Kampfhandlungen teil — wir verbarrikadierten uns in der Werkhalle für Heißpressen und ließen die Soldaten des Inej nicht in die Halle hinein. Sie wurden von uns aus Schläuchen mit flüssiger chlorhaltiger Plastikmasse übergossen.

Alles in allem war es recht lustig.

Als uns Ramon in seinem schicken Sportauto nach Hause brachte, betonte er nochmals, dass es keine Information über Neu-Kuweit gäbe. Deshalb sollte man auch nicht von vornherein vom Schlimmsten ausgehen. Im Gegenteil, so etwas dürfte überhaupt nicht passieren. Aber… sicherheitshalber…

Ich nickte schläfrig und schaute aus dem Fenster. Mein vierter Planet. Und an den zweiten konnte ich mich nicht einmal erinnern. So war es eben. Vielleicht sollte ich dem Kapitän der Kljasma einen Brief schreiben? Um herauszufinden, wo ich war?

Schade, dass ich kein Phag werden kann, dachte ich. Aber ihnen zu helfen ist auch interessant. Obwohl es nicht ganz das dasselbe ist.

»Seht zu, dass ihr ausschlafen könnt!«, riet Ramon. »Schlaft wenigstens ein bisschen. Um zehn wird euch Stasj abholen und zum Kosmodrom bringen.«

»Und wer fliegt das Raumschiff?«, erkundigte ich mich.

»Nicht Stasj. Er hat eine andere Aufgabe«, erwiderte Ramon nach kurzem Zögern. »Ich auch nicht. Aber das ist unwichtig, Jungs. Ein jeder von uns Phagen wird mit dieser Mission klarkommen.«

»Ich weiß. Aber es ist trotzdem besser, wenn dein Freund bei dir ist, oder nicht?«

Ramon zuckte mit den Schultern. »Ich erkenne die Theorie von Stasj. Verstehst du, Tikkirej, persönliche Beziehungen — das ist eine Medaille mit zwei Seiten. Natürlich sind die Menschen keine Roboter, die ohne Emotionen leben können, ohne Sympathie, Freundschaft oder umgekehrt. Wenn du wüsstest, wie viel Leid gerade diese persönlichen Beziehungen den Menschen zugefügt haben!?«

»Wieso denn das?«, wollte ich wissen. »Der erste Sternenflieger, Son Chai, kehrte entgegen der Fügung des Schicksals auf die Erde zurück, nur weil er sich nach seiner Geliebten sehnte! Und der Pilot der Magellan konnte ein havariertes Raumschiff landen, weil seine Familie sich darin befand. Und…«

»Du führst lediglich positive Beispiele an, Tikkirej. Aus dem Lehrbuch für Ethik für die fünfte Klasse, stimmts?«

»Kann sein…« Ich überlegte. »Ich glaube, ja.«

»Du hast damit durchaus Recht«, fing Ramon rhythmisch, als würde er Nägel einschlagen, an zu sprechen. »Im gewöhnlichen menschlichen Leben sind Freundschaft, Liebe, Zärtlichkeit — all das, was wir unter dem Begriff ›positive persönliche Beziehungen‹ verstehen — sehr wichtig. Aber jedes Ding hat zwei Seiten. Ein einfaches Beispiel: Wenn dein Freund Rossi zu dir eine größere Freundschaft empfunden hätte, hätte er dir sofort geholfen.«

»Er wusste aber doch nicht, wie man jemanden rettet, der durch das Eis gebrochen ist!«, wandte ich zu Rossis Verteidigung ein.

»Genau. Und ihr hättet beide sterben können. Je freundlicher die Menschen im ungefährlichen und abgesicherten Alltag miteinander umgehen, desto besser. So kann ein Mensch beim Versuch, ein untergehendes Kind zu retten, sein Leben riskierenodersichSorgenmachenwegen Unannehmlichkeiten, die seinen Freund betreffen! Das ist nicht weiter gefährlich. Es nützt der Gesellschaft. In einigen Berufen jedoch…« Ramon zögerte. »Tikkirej, stell dir zum Beispiel Folgendes vor: Du bist auf Neu-Kuweit in Lebensgefahr. Dir droht der Tod, weil du als unser Agent erkannt wurdest und beschlossen wurde, dich öffentlich hinzurichten. Unter den Zuschauern sitzt Stasj. Er kann versuchen dich zu retten. Er hat ungeachtet aller seiner Fähigkeiten als Phag so gut wie keine Chancen… Stasj besitzt jedoch eine äußerst wichtige Information, die an den Imperator weitergeleitet werden muss. Was wird er machen?«

»Stasj wird das Imperium nicht verraten«, antwortete ich. »Er wird sich nicht einmischen… danach wird er sich Vorwürfe machen. Und das war’s.«

Mir wurde unheimlich zumute bei dieser Vorstellung! Als ob ich wirklich auf dem riesigen Platz in Agrabad stehen würde, auf einem grob zusammengezimmerten Holzpodest, wie in alten Filmen. Ich sah mich da mit auf den Rücken gefesselten Händen stehen, nackt bis zum Gürtel, und ein riesiger Henker mit einem Beil wies mit seinem kapuzenbedeckten Kopf auf den dunklen, zerhackten Richtblock — nimm Platz, mach deinen Nacken frei. Die Menge war erregt, alle standen auf Zehenspitzen und gafften mich an. Und nur ein Mensch, Stasj, lächelte nicht und freute sich nicht über das Geschehen.

»Nehmen wir an«, fuhr Ramon fort, »Stasj ist ein erfahrener und erfolgreicher Phag. Er weiß, dass das Ganze wichtiger ist als das Einzelne. Er lässt den Dingen seinen Lauf und kommt nach Avalon zurück. Und was wird danach aus ihm, Tikkirej, was glaubst du? Wie lange wird er sich quälen? Was wird er in Zukunft noch für ein Mitarbeiter sein?«

Ich schwieg. Ich wusste wirklich nicht, was Stasj dann für ein Mitarbeiter sein würde, wenn ich vor seinen Augen hingerichtet würde und er sich nicht zu erkennen geben dürfte. Vielleicht geschah auch gar nichts Außergewöhnliches. Sogar unsere Nachbarin Nadja sagte mir an einem Abend mehr Koseworte als Stasj in einem ganzen Monat!

Ramon verstand mein Schweigen auf seine Art.

»Und genau darin besteht die Problematik unserer Arbeit, Tikkirej. Das, was dir teuer ist, muss entweder weit entfernt oder in Sicherheit oder in deiner eigenen Seele verschlossen sein. Das ist eine uralte Kundschafterregel. Und wir ähneln in Vielem eben diesen Kundschaftern…«

»Hat Stasj unseretwegen Schwierigkeiten bekommen?«, wollte ich wissen. »Weil er uns aus Neu-Kuweit mitgebracht hat?«

Ramon schaute mich herablassend an.

»Schwierigkeiten? … Aber nein, wieso denn! Alles war professionell gemacht und durchaus begründet.«

»Und warum sagen Sie mir dann solche Dinge? Für alle Fälle? Oder für die Zukunft?«

Ramon warf mir einen Blick zu.

»Deshalb, Tikkirej, damit du nichts Unmögliches erwartest. Und nicht auf Unterstützung durch Stasj oder mich rechnest.«

»Das erwarte ich auch nicht.«

Es schien, als ob Ramon etwas verärgert wäre.

»Tikkirej, halt uns aber bitte nicht für herzlos! Wir können nicht das Schicksal von Millionen wegen eines einzelnen Menschen riskieren. Deshalb bieten wir dir auch an, von der Mission zurückzutreten.«

Ich schüttelte an Stelle einer Antwort meine Hand. Die Schlange steckte ihren Kopf aus dem Ärmel, schaute sich um und verschwand wieder.

Ramon fragte: »Hast du wirklich nicht lange genug mit Spielzeug gespielt? Tikkirej, die Peitsche ist nichts weiter als ein Spielzeug! Wenn auch ein todbringendes.«

»Ich hatte nur wenig Spielzeug«, erwiderte ich. »Spielzeuge gehören nicht zum sozialen Mindestbedarf.«

Ramon schaute weg und meinte: »In Wirklichkeit droht euch keine Gefahr. Selbst wenn sie euch fassen sollten… Die Agenten des Inej können grausam sein, Sie sind aber keine blutrünstigen Mörder.«

Ich erwiderte nichts, erinnerte mich aber an den Agenten, den Stasj getötet hatte, und an dessen Worte: »Dieser Junge hat keine Bedeutung für Inej«.

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