Литмир - Электронная Библиотека

Auf dem Gerüst nahm man endlich Tien die Schlinge vom Hals und stellte eine hölzerne Leiter direkt in die Masse.

»Soll er gehen«, wiederholte Inna Snow. »Lasst ihn passieren, Bürger. Berührt ihn nicht. Soll er zum Kosmodrom gehen, sich in sein Raumschiff setzen und den Planeten verlassen. Niemand soll ihm zu nahe kommen!«

Sjan Tien wartete geduldig. Ihm wurden die Fesseln an Händen und Füßen abgenommen. Er rieb seine Handgelenke, danach ging er auf Inna Snow zu. Er sprach zu ihr. Man hörte seine Worte nicht, wohl aber die Antwort der Herrscherin: »Eure Psychoweisheit hat keine Wirkung auf mich. Ich werde den Schleier an dem Tag lüften, an dem die Menschheit das Joch des Imperators abgeschüttelt haben und eine Familie bilden wird. Geh, Phag, geh zu deinen Herren.«

Tien zuckte mit den Schultern. Langsam stieg er vom Gerüst. Die Menge wich zur Seite und bildete einen Freiraum um ihn. Tien sah sich um. Er ging — und der Freiraum um ihn herum bewegte sich mit ihm. Die Menschen sprangen zur Seite, als ob der Phag selber die Beulenpest hätte.

Ich bekam nicht mit, wer ihn als Erster anspuckte. Es waren gleich ungeheuer viele, die Sjan Tien anspuckten und dabei versuchten, ihn ins Gesicht zu treffen.

Tien schien die Erniedrigung nicht zu bemerken. Er ging weiter. Direkt auf mich zu. Der Freiraum folgte ihm.

Ich zappelte und versuchte ihm aus dem Weg zu gehen, es war aber bereits zu spät. Die Menschenmasse presste sich zusammen und ich wurde direkt gegen Tien geschleudert — in die erste Reihe derer, die sich wie verrückt gebärdeten, schrien und spuckten wie ungezogene Kinder. Tiens Blick glitt über mich, ohne sich zu verändern, aber ich wusste, dass er mich erkannt hatte.

Ich sammelte den Mund voller Speichel und spuckte Tien an. Ich schrie: »Hau ab! Hau ab!«

Dann wurde ich zur Seite gedrängt, der Kreis bewegte sich weiter. Ich spuckte noch einmal, Tien in den Rücken.

Ich hatte mich noch nie in meinem Leben so ekelhaft gefühlt.

Das bedeutete es also, ein Phag zu sein?

Mit einer Schlinge um den Hals dazustehen, wenn frech und schamlos Lügen über dich verbreitet, dir die Worte im Munde umgedreht werden und du jeglicher Sünden bezichtigt wirst — das hieß also auch, »ein Phag zu sein«?

Angespuckt durch eine schreiende Menschenmenge zu laufen und dabei an fremder Spucke fast zu ersticken?

Einem Freund ins Gesicht zu spucken?

Und wenn es Stasj gewesen wäre?

Ich wollte niemals ein Phag sein!

Und ich hasste alle diejenigen, die die Phagen zu so etwas zwangen!

Ich verstand alles, ich war nicht mehr klein. Auch der Imperator war schuld, da er seinen Ratgebern zu sehr vertraute und nicht gegen Ungerechtigkeiten wie bei uns auf Karijer kämpfte.

Vielleicht wollte Inna Snow auch wirklich nur Gutes für alle Menschen und log deshalb.

Aber das, was sie soeben gemacht hatte — das war keine Barmherzigkeit!

Das war niederträchtig.

Denn sie wusste genau: Man würde Tien anspucken. Es ging ihr nicht um seine Hinrichtung, weil die Hinrichtung eines einzelnen Menschen nicht ins Gewicht fällt, wenn Planeten gegeneinander kämpfen. Sie wollte die Phagen, das Imperium und den Imperator erniedrigen.

Als sie Tien einen Hund des Imperators schimpfte, wollte sie Krieg. Aus einem bestimmten Grund brauchte sie einen heißen Krieg! Und zwar einen Krieg, bei dem das Imperium als Aggressor gelten würde!

Warum nur?

»Tikkirej!« Lion fasste mich am Ellenbogen. »Ich hatte dich v-verloren!«

Er zitterte, als ob er krank wäre. Die Menschenmenge um uns herum kochte, aber Lion hielt sich an mir fest und sah mich mit Grauen an.

»Hast du es jetzt verstanden? Ja? Hast du es verstanden?«, schrie er.

»Ich habe es verstanden!«, erwiderte ich. »Lion, beruhige dich! Es ist schon alles vorbei!«

Ja, wir hatten es überstanden. Für Tien war es erst der Anfang. Am Abend sahen wir in den Nachrichten, wie er zu seinem Raumschiff kam — in einem lebenden Korridor, in einem Kreis der Leere, in einem spuckenden menschlichen Ring.

Aber jetzt fassten wir uns fest an. Wir wurden in der Menge hin und her gestoßen, einer freundlichen, aufmerksamen, rücksichtsvollen Menge, in der sich alle bemühten, zwei kleine Jungs zu unterstützen, die man sonst zertrampelt hätte.

Kapitel 6

Auf dem Heimweg zum College beruhigte sich Lion ein wenig. Er schimpfte allerdings pausenlos.

»Hast du bemerkt, wie sie die Menge aufgehetzt hat? Und was sie mit uns angestellt hat? Sogar du hast ihr zugejubelt, ich habe es gehört!«

»Sie hat auf eine besondere Weise gesprochen«, erklärte ich. »Die Phagen können das auch… Wenn du Befehle gibst und man sich dir unterordnet. Ich glaube aber nicht, dass die Phagen gleich eine riesige Menschenmenge beeinflussen können. Und auf Snow hat es überhaupt nicht gewirkt… Ist dir aufgefallen, dass Tien versucht hat, sie dazu zu bringen, ihren Schleier zu lüften?«

»Ha,dieMenge!«,fauchteLionverächtlich. »Hirnamputierte!«

»Ich gehöre nicht zu den Hirnamputierten!«, berichtigte ich. »Und du auch nicht. Aber wir haben mitgejubelt.«

Neben einem Müllkübel fand Lion eine leere Bierdose. Er bückte sich, als ob er sie aufheben wollte, überlegte es sich jedoch anders, schaute sich sichernd um, zog eine Grimasse und stieß mit voller Kraft die Bierdose weg. Sie schepperte so unangenehm, wie nur leere Plastikbehälter scheppern können.

»Wie kindisch«, bemerkte ich.

Ich schritt aus, Hände in den Taschen, und hatte keine Lust, Bierdosen wegzukicken, Flaschen zu zerschlagen oder die Präsidentin Inna Snow zu beschimpfen.

Das war dumm, das war auf dem Niveau von Lions kleinem Bruder, wenn er ein Auto zerstampfte. Wir aber waren nun mal keine Kinder, denen die Föderation des Inej und deren Präsidentin einfach nicht gefiel. Wir waren Aufklärer, Helfer der Phagen.

»Der Imperator muss in den Krieg ziehen«, sagte Lion plötzlich. Er sah mich an und sein Gesicht war wie versteinert. »Es bleibt ihm nichts anderes übrig. Alle werden ihr folgen. Es wird zum Kampf kommen.«

»Und deine Eltern?«, wollte ich wissen.

Lion blinzelte und kam ganz durcheinander.

»Sie werden doch für Inej kämpfen«, erinnerte ich ihn. »Für Inna Snow. Dein Brüderchen wird kämpfen, dein Schwesterchen auch. Und dein Vater wird in den Krieg ziehen. Deine Mutter wird in einer Fabrik schuften oder im Schacht arbeiten.«

»Ich werde darum bitten, dass sie evakuiert werden… Und dass sie eine Gehirnwäsche bekommen!«, sagte Lion kläglich. »Oder sind sich die Phagen dafür etwa zu schade?«

»Die Phagen handeln nicht aus Mitleid«, erinnerte ich ihn. »Nur Stasj ist nicht ganz so wie die anderen.«

»Dann musst du zurückfliegen«, beschloss Lion. »Wir haben schon alles aufgeklärt. Es wird Krieg geben. Der Imperator wird derartige Beleidigungen nicht hinnehmen, er ist zwar alt, aber stolz. Verlass den Planeten und berichte alles, was wir erkundet haben. Und ich bleibe bei meinen Eltern.«

»Du wirst im College bleiben«, berichtigte ich ihn. »Und wirst auch nichts machen können. Tja, und was haben wir hier eigentlich erkundet?«

»Dass Inna Snow gegen das Imperium kämpfen will«, sagte Lion.

»Glaubst du, sie ist nicht bei Trost?«, fragte ich. »Denk doch einmal selbst nach, was das Imperium für eine Flotte hat im Gegensatz zu der von Inej! Wie viele Planeten zum Imperator halten und wie viele zu Inna Snow! Na gut, hier hat sie alle hirnamputiert, sie würden für sie in den sicheren Tod gehen. Aber mit allen anderen wird es nicht so leicht sein! Bei ihnen sind die Radioshunts deaktiviert, das Programm kann nicht mehr so einfach initiiert werden. Sogar wenn es weitere Betroffene geben sollte — sie können jetzt geheilt werden. Wie will sie denn dann kämpfen? Besitzt sie etwa eine Wunderwaffe? Irgendeinen Todesstrahl wie im Film? Eins — und alle Sterne sind erloschen, zwei — und alle Raumschiffe sind verglüht…«

72
{"b":"123221","o":1}