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»Gekämpft hast du im Traum auch schon«, bemerkte ich.

»Das ist etwas anderes«, widersprach Lion. »Ans Kämpfen kannst du dich nicht gewöhnen. Jeder Kampf ist, als wäre er der erste.«

Vierter Teil

Klone und Tyrannen

Kapitel 1

Hatte ich mir bisher wirklich eingebildet, dass ganz Agrabad nur aus Gärten und Palästen bestehen würde?

Tja, es schien ganz so. Seit dieser ersten Nacht, in der ich in der Hauptstadt war. Als ich hinter Stasj’ Rücken saß, den bewusstlosen Lion festhielt und dabei auf riesige Gebiete mit Wohnhäusern, von Gärten umgebene komfortable Bungalows, festliche Fensterbilder, breite Hauptstraßen und die Schaufenster der Geschäfte schaute.

Agrabad war völlig anders. Hinter den wirklich schönen neuen Stadtteilen standen noch die ersten Häuser der Siedlerpioniere — primitiv, verfallen, an die Erde gedrückt, aber stabil. Auch dort wohnten noch Menschen. Ebenfalls Hirnamputierte. Es war hier genauso wie im neuen Teil von Agrabad und trotzdem anders, wie von Staub bedeckt. Inna Snow wurde hier auch auf völlig andere Art und Weise geehrt — irgendwie grober, mit einem Schnalzen der Zunge und einem Zwinkern, als ob es sich um eine skandalumwitterte populäre Sängerin, nicht jedoch um die »Übermutter« und »Frau Präsidentin« handeln würde.

Genau hier wohnten wir jetzt.

In einem Heim für verhaltensgestörte Kinder namens ›Spross‹.

Natascha hatte alles hervorragend bedacht. Es wäre schwieriger gewesen, sich im Wald zu verstecken. Auf der Straße hätten wir nicht leben können. Eine Einrichtung dagegen — nur nicht die, wohin wir geschickt worden waren, sondern eine völlig andere — erwies sich als ideale Lösung.

Bei diesem Heim handelte es sich um eine lange zweistöckige Baracke, die ganz isoliert stand. Ringsherum dehnte sich ebenfalls ein Garten, aber nicht so gepflegt wie im Pelach, sondern alt und vernachlässigt. Die Schlafzimmer waren für zehn bis zwölf Personen. Insgesamt lebten in diesem Heim ungefähr achtzig Menschen. Wir erledigten fast alles selber, es gab nur sieben Erwachsene: drei Erzieher, einen Koch, einen Arzt, einen Psychologen und einen Wächter.

Mehr als die Hälfte der Heimbewohner waren nicht hirnamputiert. Nicht etwa, dass auf sie die Waffe des Inej nicht eingewirkt hätte, es war nur so, dass diese Jungs und Mädchen anfangs die Trickfilme über den Erfinder Edikjan und den General Ichin, danach »Die fröhliche Familie« und »Anton und seine Mädchen« nicht geschaut hatten. Und die auf dem Inej produzierten schulischen Lernprogramme hatten sie ebenfalls nicht konsumiert. Deshalb fand sich nirgendwo in ihrem Gehirn ein Programm — obwohl ihre Neuroshunts um einiges besser waren als mein alter Kreativ.

Mir schien jedoch, dass es bei ihnen keinen Unterschied machte, ob sie hirnamputiert waren oder nicht.

Die Hirnamputierten herauszufinden war einfach. Sie lobten Inna Snow viel öfter und mit einem Glanz in den Augen, außerdem bemühten sie sich nach Kräften, etwas zu lernen. Die Normalen lobten Inej und seine Präsidentin natürlich auch. Sie saßen ebenfalls in den Unterrichtsstunden vor ihren Computern und versuchten, irgendwie die Tests zu bestehen, um auf das nächste Lernniveau übergehen zu können. Anfangs schien mir, dass sie krank und debil waren, dass sie versehentlich in ihrer Kindheit nicht behandelt und geheilt worden waren. Danach wurde mir klar, dass dies nicht der Grund war. Einige wollten ganz einfach nicht lernen. Andere wiederum wollten, aber durchaus nicht das, was man so in der Schule lernt.

Lion und ich kamen mit falschen Dokumenten in das Heim. Ich hieß jetzt Kirill, Lion hieß Rustem. Den Dokumenten zufolge waren unsere Eltern Fischer von irgendwelchen tropischen Inseln, uns wurden »soziale Verwahrlosung, Ideenlosigkeit und fehlende moralische Adaptation« bescheinigt. Letzteres klang sehr beleidigend, fanden wir.

Natascha blieb Natascha. Nur, dass sie jetzt als meine Schwester galt. Es gab wenige Mädchen im ›Spross‹, weniger als ein Dutzend.

Obwohl wir als asoziale, gefährliche Jugendliche galten, gab es weder einen strengen Tagesablauf noch eine Überwachung für uns. Zuerst sprach ein junger Psychologe mit uns, ein äußerst langweiliger und müder Mann, der alles sofort erläuterte. »Ihr seid erfolglose Mitglieder der Gesellschaft«, sagte er. »Ihr habt alle notwendigen Fähigkeiten für ein vollkommenes und glückliches Leben. Durch euer Verhalten stellt ihr euch außerhalb der Gesellschaft. Der Gesellschaft ist das egal. Niemand wird sich darum bemühen, euch auf das Niveau eines durchschnittlichen Bewohners zu heben. Letztendlich wird immer jemand gebraucht, der den Müll wegräumt, die Kanalisation reinigt und als Versuchsperson für neue Medikamente dient. Aber ausgehend von Gedanken der Humanität bekommt ihr alle noch eine Chance, euch zu vollwertigen Menschen zu entwickeln. Lernt, dann kommt ihr vielleicht an eine bessere Schule. Vielleicht wollen euch eure Eltern sogar wieder zu sich holen…«

Wir versprachen ihm natürlich, uns anzustrengen. Er lobte uns dafür, glaubte jedoch kein Wort.

Im ›Spross‹ versuchte niemand, uns eine »Begrüßung« zu organisieren, obwohl sich einige der Jungs sichtlich gerne prügelten. Es stellte sich aber heraus, dass die Hirnamputierten eine Schlägerei schon für etwas Unrichtiges, etwas Ungutes hielten. Im privilegierten College Pelach war das anders. Dort galt eine Schlägerei mit Neuankömmlingen als Norm, wie im Film. Wenn jedoch hier normale Rowdys eine Schlägerei anfingen, warfen sich alle Hirnamputierten gemeinsam auf sie. Mit glasigen Augen und einer derartigen Wut, als ob sie bereit wären, sich auf Leben und Tod zu schlagen.

Vielleicht waren sie auch wirklich dazu bereit.

Dafür gab es eine Menge Gemeinheiten, bei denen die Hirnamputierten nicht wussten, wie sie reagieren sollten. Zum Beispiel konnte man ein Spiel verlieren und deshalb für eine bestimmte Zeit der Diener des Gewinners werden. Die Diener hatten jeden beliebigen Wunsch ihres Herrn auszuführen: Einige liebten es, zum Beispiel, dass ihnen vor dem Schlaf die Fußsohlen gekitzelt oder interessante Geschichten erzählt wurden. Fast alle jüngeren und schwächeren Kinder waren Diener. Die Hirnamputierten selbst hatten keine Diener, mischten sich aber bei den anderen nicht ein.

Uns versuchte man ebenfalls damit zu kommen. »Kommt, wir spielen…«

Aber Natascha hatte uns vorgewarnt, was im Heim abging, und wir lehnten ab. Niemand beharrte auf diesem Wunsch — wir waren zu zweit, und uns war klar, dass die Hirnamputierten bei einer Schlägerei auf unserer Seite stehen würden.

Also lernten wir, genauer, wir taten so, als ob wir lernen würden, denn alle Lernprogramme hier waren viel zu leicht, und versuchten uns von allem fernzuhalten. Wir wollten nicht auffallen. Wir warteten. Wir hatten einen ein- bis zweiwöchigen Aufenthalt im ›Spross‹ eingeplant, um danach woandershin zu gehen. Natascha meinte, dass es für uns das Beste wäre, in eine andere Stadt zu gehen.

Der Aufenthalt hier war unproblematisch, obwohl das Essen nicht besonders war und wir uns langweilten. Dafür kümmerte sich niemand um uns. Die Erzieher verteilten Aufgaben und nahmen die Resultate der Tests entgegen, der Wächter schritt manchmal faul durch das Gelände, meistens saß er in seinem Zimmerchen oder war in der Turnhalle. Der Psychologe kam überhaupt nicht aus seinem Kabinett heraus, schaute sich dort irgendwelche virtuellen Serien über den Shunt an, und wenn sich jemand an ihn wandte, schien er so unglücklich, als ob er dazu gezwungen wäre, im Steinbruch zu arbeiten.

Nur dass es hier so furchtbar langweilig war…

Am Abend des dritten Tages wäre ich vor Langeweile am liebsten die Wände hochgegangen. Lion ging in die Turnhalle, um etwas an den Fitnessgeräten zu machen, und ich saß im Klassenraum und spielte Tetris. Ich hätte lieber Schach oder etwas Anspruchsvolleres gespielt, aber vielleicht wurden die Computer kontrolliert? Dann hätte ich verraten, dass ich gar kein so großer Dummkopf bin, wie ich es eigentlich sein müsste. Tetris dagegen erfordert lediglich Konzentration und dreidimensionales Denken, Tetris kann man auch gut spielen, wenn im Kopf völlige Leere herrscht.

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