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»Und außerdem hast du noch geschlafen und gegessen«, ergänzte Lion ungeduldig. »Komm zur Sache!«

Natascha fauchte: »Hast du es eilig? Ihr braucht es nicht eilig zu haben. Also, der Wächter hat eine gute Verbindung zum Netz, Zugang zur Polizeifrequenz. Das ist fast legal, der Wächter der Anlegestelle ist ein inoffizieller Helfer der Polizei. Als ich mich ausruhte, schaute ich die Meldungen durch, es gibt jetzt nur noch wenige, bei den wenigen Verbrechen zurzeit. Ich fand eine Info darüber, dass zwei Jugendliche, die vor zwei Monaten verschwunden waren, mit einer unglaubwürdigen Legende wieder aufgetaucht waren, sie hätten sich im Wald verlaufen.«

»War es genauso formuliert: ›mit einer unglaubwürdigen‹?«, wollte ich wissen.

»›Die einer kritischen Betrachtung nicht standhielt‹«, konkretisierte Natascha. »Ich ging davon aus, dass alles vorbei war, dass man euch geschnappt hätte. Und da las ich die folgende Verfügung: ›Keine Handlungen unternehmen.‹ Die erste Mitteilung war von einem Polizeibeobachter im Motel. Die Anweisung vom Ministerium für Verhaltenskultur.«

Das »Ministerium für Verhaltenskultur« kannte ich durch unsere Ausbildung. So nannte sich die Spionageabwehr des Inej.

»Wenn euch die Polizei festgenommen hätte«, sagte Natascha überlegend, »wäre alles ganz einfach. Entweder ihr werdet verhört und laufen gelassen oder festgesetzt. Aber die Spionageabwehr ist etwas völlig anderes. Das bedeutet, dass man euch folgen und ›bearbeiten‹ wird.«

»Und warum bist du dann hierhergekommen?«, rief ich aus. »Natascha, wenn alles so ernst ist — dann überwacht man uns nach dem vollen Programm! Vielleicht gibt es hier Sender, die wir nicht orten können! Und alles, was wir bereden, wird mitgehört!«

»Vielleicht«, stimmte Natascha zu. »Aber nicht unbedingt. Wenn ein Agent ernsthaft bearbeitet wird, kümmert man sich ein bis zwei Tage nicht besonders um ihn. Damit er seine Wohnung überprüfen, nichts finden, sich beruhigen und entspannen kann. Erst danach wird man euch Zimmer und Kleidung verwanzen und einen Satelliten auf euch richten…«

»Woher weißt du denn das?«

»Von Opa«, antwortete Natascha kurz.

»Und wenn man uns trotzdem beobachtet? Wenn du mit uns geschnappt wirst?«

»Ihr seid wichtiger«, sagte Natascha. »Großvater hat mir befohlen, wenn irgendetwas ist, seid ihr um jeden Preis zu retten. Ich kann sowieso nichts Wichtiges verraten, selbst wenn man mich hundertmal kriegen würde. Unser Lager wurde schon verlegt. Was Großvater weiter vorhat, weiß nur er selbst. Ich habe mich mit unserem Freund beraten, und er sagte mir, dass ich gehen solle. Gab mir die Ausrüstung. Wir fanden heraus, dass ihr hierhergebracht wurdet, und da bin ich…«

Lion und ich schauten uns an.

So ein Pech! Wirkliche Widerstandskämpfer, die ernsthaft gegen Inej kämpfen, riskieren unseretwegen, die wir nichts wissen und nichts können, ihr Leben!

»Natascha, danke!«, sagte ich. »Was sollen wir denn jetzt machen?«

Sie schaute mich erstaunt an.

»Wir haben eine sehr einfache Aufgabe«, murmelte ich. »Uns auf dem Planeten einleben und die Ereignisse verfolgen. Keine Anschläge… Überhaupt nichts… Nur schauen und einprägen. Wir dachten, dass wir hier leben würden, und das war’s.«

»Alles klar. Jetzt könnt ihr aber nicht in der Legalität bleiben.« Natascha schüttelte energisch den Kopf. »Ihr müsst untertauchen!«

»In den Wald?«, schlug ich vor. Ich spürte, wie mein Herz anfing, froh zu schlagen.

Wir werden keine Hirnamputierten spielen, uns nicht vor Kameras und Mikrofonen verstecken, nicht die beängstigende Stimme von Inna Snow anhören müssen! Nicht ständig auf unsere Verhaftung oder eine Provokation warten. Nicht zuschauen, wie gute und ehrliche Leute erniedrigt werden. Wir werden eine Hütte bauen oder eine Höhle suchen, im Wald wohnen, jagen, Fische fangen, manchmal in die Dörfer gehen und Nahrungsmittel und Kleidung requirieren. Wir werden dem alten Semetzki und seinen »Schrecklichen« helfen. Und dann, früher oder später, wird der Imperator alles in Ordnung bringen und die Bösen bestrafen. Lions Eltern werden geheilt und er wird zu ihnen zurückkehren. Ich werde zum Avalon fliegen. Oder wir werden gemeinsam fliegen, denn seinen Eltern wird der Avalon sicher gefallen! Oder wir werden gemeinsam hierbleiben. Nein! Trotzdem wird es besser sein, zum Avalon zu fliegen. Manchmal werden wir Semetzki besuchen und uns an die gemeinsamen Abenteuer erinnern. Mit Natascha werde ich in eine Schule gehen. Stasj wird uns oft besuchen und manchmal über seine Abenteuer berichten. Ich werde wieder bei den Phagen arbeiten und ihnen helfen, den Frieden in der Galaxis zu verteidigen…

»In den Wald auf keinen Fall«, beendete Natascha meine Träume. »Ich weiß nicht, wo die Unseren sind. Und wenn wir verfolgt werden? Wir werden uns in der Stadt verstecken.«

»Gemeinsam?«, wollte ich wissen.

»Ja. Ihr müsst noch heute gehen, solange von euch noch keine Überraschungen erwartet werden.«

»Ach«, meinte Lion bitter und schaute sich im Zimmer um. »Und wie gut wir es getroffen hatten!«

Ich konnte ihn verstehen. Und wirklich: Es war komisch, aus dem College zu fliehen, nachdem wir gerade angekommen waren. Aber Natascha blickte uns ernst und angespannt an. Sie riskierte ihr Leben für uns! Und dieser Widerstandskämpfer vom Anlegesteg auch. Sie gingen ein Risiko ein, um uns aus den Fängen der Spionageabwehr des Inej zu befreien.

Vielleicht hätte ich noch eine Weile geschwankt. Aber urplötzlich erinnerte ich mich an das Cottage von Stasj, an den an die Wand geklebten nackten Menschen und seine kalte, fast unmenschliche Stimme:

»Dieser Junge hat für Inej keinen Wert!«

Ich schüttelte mich.

»Lion, pack deine Sachen zusammen.«

»Können wir wenigstens Kleidung mitnehmen?«, fragte Lion. Da wurde mir bewusst, dass auch er früher nicht so viele schöne, gut aussehende und hochwertige Sachen besessen hatte.

»Nein«, erwiderte Natascha bedauernd. »Ihr braucht nichts.«

»Wir haben überprüft, da sind keine Wanzen…«, meinte ich.

»Das ist es nicht.« Natascha zögerte. »Alles in allem… Ach, ihr werdet schon selber sehen.«

»Mach’s gut, du Elefantenschlafanzug«, seufzte ich und schaute dabei Lion an. Er konnte sich nicht beherrschen und begann zu kichern. »Natascha, wie sollen wir fliehen? Durchs Fenster?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich erhole mich ein wenig und steige dann durchs Fenster. Ihr kommt früh am Morgen auf die Straße, dort treffen wir uns. Dann erkläre ich euch alles.«

»Wir schwänzen die Schule«, zählte Lion auf, »einem Typen haben wir das Nasenbein zertrümmert, uns einen ganzen Tag über in der Stadt herumgetrieben, dann gegessen und geschlafen und zum Schluss sind wir abgehauen. Echt cool!«

Seine Stimme klang nicht wirklich fröhlich.

»Wir müssen der Direktorin eine Nachricht hinterlassen«, überlegte ich laut. »Dass es uns peinlich ist, in einer dermaßen teuren Einrichtung zu lernen und wir deshalb gehen…«

»So ein Quatsch!«, fauchte Lion. »Das glaubt uns doch niemand!«

»Na und? Es ist immer noch besser, als gar keine Erklärungen abzugeben.«

»Jungs, ich schlafe ein wenig, ja?«, unterbrach uns Natascha. »Weckt ihr mich um vier?«

Wir überließen ihr Lions Bett und stellten den Wecker des Pocket-PC auf vier Uhr. Nataschas Kondition war wirklich gut, aber sie hatte sich schon ewig nicht mehr ausruhen können: Ihr Kopf hatte kaum das Kopfkissen berührt, als sie auch schon eingeschlafen war. Lions Augen sah ich an, dass es ihm ebenso peinlich war wie mir. Ein Mädchen, das sich noch dazu früher mit einer so dämlichen Sache wie Tanzen befasst hatte, kämpfte im Unterschied zu uns wirklich für das Imperium!

»Los, wir gehen auch schlafen«, schlug ich vor. »Wer weiß, wann wir wieder dazu kommen…«

Lion deckte Natascha vorsichtig zu und nickte. Er überlegte eine Weile und sagte dann:

»Weißt du, ich bin sogar froh darüber. Das wäre ja wirklich zu doof — auf einem feindlichen Planeten zu landen und dort zur Schule zu gehen. Ich habe sowieso im Traum schon die Schule beendet. Da ist es doch besser zu kämpfen.«

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