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Dann jedoch erinnerte ich mich an meine Eltern. Wie fröhlich und zu Scherzen aufgelegt sie an ihrem letzten Abend waren.

»Sie streben nach Macht und nichts als Macht«, fuhr Stasj fort. »Alle Klone von Eduard Garlitzki, die Männer wie die Frauen. Macht ist die stärkste Droge.«

»Du hast mich schon wieder belogen«, rief ich. »Du wusstest sogar von Garlitzki! Du hast mich belogen, Stasj!«

Und ohne richtig zu verstehen, was ich da tat, stand ich auf, ging zu Stasj… und umarmte ihn.

»Warum umarmst du mich dann, Tikkirej?«, fragte er zärtlich.

»Weil du dich nicht aus Versehen versprechen würdest«, erwiderte ich und hielt meine Tränen zurück. »Weil… weil alle lügen…«

»Aber nur wenige bedauern ihre Lügen«, meinte Stasj leise. Sein Hand klopfte mir auf die Schulter. »Meine Offenheit hat Grenzen, Tikkirej. Ich darf dem Befehl des Rates nicht zuwiderhandeln, nicht mein gegebenes Wort brechen. Erinnerst du dich, wie der Agent des Inej, Leutnant Karl, starb?«

»Er hieß Karl?«, fragte ich. Meine Augen blieben geschlossen.

»Ja. Ich erinnere mich an die Namen aller, die ich getötet habe… Tikkirej, ich konnte dir nicht eröffnen, dass du ein Klon unseres Gegners bist. Ich hätte es nicht einmal geschafft, es auszusprechen, Tikki.«

»Und jetzt kannst du?«, erkundigte ich mich.

»Jetzt ja.«

»Hat sich etwas verändert? Hängt es mit den Waffenstillstandsverhandlungen zusammen?«

»Ja«, erwiderte Stasj.

Nun jedoch war mir klar, dass er log. Das hatte überhaupt nichts mit den Verhandlungen zu tun! Es war etwas anderes. Aber Stasj belog gar nicht mich, sondern diejenigen, die uns beobachteten, die jede Abweichung der Stimme, das Zittern eines jeden Muskels, jede aus dem Auge quellende Träne und jeden auf der Stirn erscheinenden Schweißtropfen analysierten. Er log — und wollte, dass ich es wusste. Nur ich.

Weil noch nicht alles verloren war!

Weil Stasj auch diese Gefängniszelle, meine Tränen und das unbarmherzigeStarrenderÜberwachungskameras vorhergesehen hat.

Die Phagen benutzen nie einen endgültigen und favorisierten Plan. Alle ihre Pläne ähneln einer Puppe in der Puppe, sind ineinander versteckt, nur dass man selten bis zum Letzten vordringt.

»Stasj, wenn nun das Imperium siegen würde, was würde mit den Klonen geschehen?«, wollte ich wissen.

»Mit denen, die nicht am Putsch beteiligt waren — nichts. Diejenigen, die damit einverstanden waren, das Bewusstsein der Matrize zu übernehmen, würden unter strenge Bewachung gestellt und das Recht auf Fortpflanzung verlieren.«

»Und mit solchen wie mir?«

»Nichts. Wir würden sicherlich ein Auge darauf halten. Aber ohne Beschneidung der Rechte.«

»Ich möchte gar keine Macht«, äußerte ich. »Ich möchte lediglich, dass es keinen Krieg gibt. Dass du nicht hingerichtet wirst. Dass Lion, Natascha und alle Mädchen freigelassen werden. Dass Semetzki nicht stirbt!«

Semetzki lachte leise. »Das wohl kaum… Weißt du, wie alt ich bin, mein Junge? So oder so ist es an der Zeit.«

Darüber wollte ich keinen Streit mit ihm.

»Wenn ich die Matrize fragen würde — könnte sie euch freilassen? Wenn ich einverstanden wäre, auf Neu-Kuweit zu bleiben?«

Stasj überlegte. Nein, eher nicht. Er überlegte nicht. Er spielte auf Zeit, jetzt verstand ich.

»Versuch es doch!«, riet er.

»Stasj, niemand wird uns laufen lassen!«, rief Alex aus. »Stasj, wie kannst du nur auf so etwas hoffen?«

Der junge Phag hatte nicht verstanden! Nicht einmal er spürte die Intonationen, die ich den Worten von Stasj entnahm. Vielleicht weil Stasj jetzt nur für mich sprach?

Ich richtete mich auf, nickte Lion zu — der schaute mich perplex an — und schrie in den Raum: »He, ihr! Ich möchte mit meiner Matrize sprechen! Ich möchte mit Adelaide Schnee sprechen! Hört ihr? Übermittelt ihr schleunigst, dass Tikkirej um ein Treffen bittet!«

Nichts passierte. Und niemand antwortete mir. Aber es verging nicht einmal eine Minute und die Tür der Zelle bewegte sich mit einem leisen Zischen zur Wand. Auf der Schwelle standen zwei Wärter mit Kraftfeldpanzerung. Im Korridor warteten weitere.

»Heraus! Alle!«, kommandierte einer der Wächter. Die Stimme, die durch das Kraftfeld der Panzerung drang, war hart und kalt wie bei einem Trickfilmroboter.

»Und wie befehlen Sie meine Fortbewegung?«, fragte Semetzki streitsüchtig. »Gebt den Rollstuhl zurück! Oder wollt ihr mich auf Händen tragen?«

Der Wärter neigte den Kopf, als ob er einer leisen Stimme zuhörte. Er nickte. »Den Rollstuhl bekommen Sie umgehend zurück.«

»Habt ihr alles überprüft, keine Bomben gefunden?«, erkundigte sich Semetzki giftig. »Ihr habt ihn doch nicht etwa in seine Einzelteile zerlegt?«

»Das haben wir«, bestätigte der Wärter.

»Schreibt mir eine Rechnung, ich werde euch für die Wartung dieses antiken Stückes entlohnen«, versprach Semetzki gallig.

Kapitel 6

Als wir durch die Korridore geführt wurden, war ich mir sicher, dass wir uns noch im Kosmodrom befanden. Ein Teil des Weges führte durch eine hermetisch abgeschlossene Rohrgalerie, die sich unter dem Dach der Wartehalle entlangzog. Zwanzig Meter tiefer zeigte sich das Leben voller Lärm und Menschen, vollkommen alltäglich. Passagiere mit Koffern, mit Gepäckwagen und Taschen. Aufgeregte, lautlos gähnende Kinder wirbelten umher, in den Cafés warteten die Passagiere auf ihre Flüge, vor den Check-in-Schaltern bildeten sich kurze Warteschlangen. Es gab außergewöhnlich viele Militärs, für sie war ein Teil der Halle abgesperrt. Dort verloren sie sich in einer einheitlich graugrünen, schwankenden Masse.

Worauf wartete Stasj?

Auf die Landung der Eingreiftruppe des Imperiums?

Aber das wird ein blutiges Gemetzel und keine Rettung für uns. Inej ist zum Krieg bereit. Die Männer und Frauen würden kämpfen, die Kinder kratzen und beißen, die gelähmten Alten die Soldaten mit Flüchen überhäufen. Das wäre keine Rettung für uns.

Worauf nur wartete Stasj?

Ich schaute ihn von der Seite an, selbstverständlich ohne ihm diese Frage zu stellen. Stasj war als Einziger von uns mit Handschellen gefesselt. Nicht mit modernen Magnetfesseln, sondern mit normalen metallenen mit einer Kette zwischen den Schellen. Das störte ihn übrigens überhaupt nicht. Er unterhielt sich leise mit Semetzki, der seinen Rollstuhl fuhr. Die Wächter beobachteten sie, griffen jedoch nicht in das Gespräch ein.

Nachdem wir den Wartesaal verlassen hatten, gingen wir noch eine ganze Zeit durch Korridore im Dienstbereich des Kosmodroms. Hier begegneten wir auffallend vielen Militärangehörigen. In einem Saal, an dem wir vorbeigingen, waren die Soldaten wie die Sprotten zusammengepresst. Sie saßen auf dem Boden und hielten lange Strahlenkarabiner alter Bauart in den Händen. Durch die weit geöffneten Türen schlug uns der saure Geruch von Schweiß entgegen, die Ventilation war überfordert. Als ob sie hier schon seit Tagen sitzen würden!

Und trotzdem war auf den Gesichtern der Soldaten ein ernstes, gefestigtes und erhabenes Gefühl zu sehen.

Wie können die Soldaten des Imperiums gegen Millionen von Fanatikern kämpfen?

»Tikkirej, hast du keine Angst?«, fragte mich Stasj.

Ich schüttelte den Kopf.

»Früher einmal hatte ich große Angst vor dem Tod«, sagte Stasj. »Eigentlich nicht vor dem Tod an sich… irgendwie hatte ich immer die Vorstellung eines Friedhofs im Winter: kalter Wind über eisiger Erde, die nackten Zweige der Bäume und niemand in der Nähe. Kein Mensch, kein Vogel, kein Tier. Unheimlich. Ich hatte sogar beschlossen, um meine Beerdigung auf einem warmen Planeten zu bitten… wenn etwas zum Beerdigen übrig blieb. Zum Beispiel auf Inej.«

»Ist Inej etwa ein warmer Planet?«, wollte ich wissen. Als ob das von Bedeutung wäre!

»Sehr sogar. Dort gibt es keinen Frost. Der Planet erhielt diesen Namen wegen seines Anblicks aus dem All: Infolge der Besonderheit des Klimas sind die Wolken auf Inej lang und dünn, fedrig, als ob der gesamte Planet mit Reif bedeckt wäre. Das klingt lustig, oder?« Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: »Aber jetzt denke ich, dass Neu-Kuweit keinen Deut schlechter ist.«

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