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»Stasj, warum belastest du den Jungen damit!«, fragte Semetzki vorwurfsvoll.

»Wir nehmen Abschied«, erwiderte Stasj ruhig. »Tikkirej, ich möchte, dass du verstehst, dass einem jeden das Leben mit unterschiedlichem Maß zugemessen wird. Aber die Möglichkeit, seinen Tod zu wählen, gibt das Leben einem jeden. Vielleicht ist das wichtig.«

Schweigend schritten wir weiter. Ich wollte Stasj anfassen, befürchtete jedoch, dass seine Handfläche kalt wie Eis sein würde.

Endlich betraten wir einen Saal und die Wächter blieben stehen.

Ein eigenartiger Ort. Ich hatte erwartet, dass wir in ein Krankenzimmer gebracht würden, da Ada Schnee verwundet war. Oder in ein Office.

Das hier war ein Mittelding zwischen Werkhalle und Labor. Balken und Krane unter der Decke, Metallgitterbrücken über gigantischen Kesseln und Becken. Riesige Drehbänke, zwar abgeschaltet, aber trotzdem seltsame Geräusche von sich gebend. Ich konnte mir gut vorstellen, wie sie bei der Arbeit dröhnten.

»Unterhaltsam«, meinte Stasj. »Das ist ein Werk zur Aufbereitung atomarer Brennstäbe. Herrgott, werden wir ein Drama aus dem Arbeitsleben zu sehen bekommen?«

Die Wächter antworteten nicht. Es schien ganz so, als wären auch sie über den Ort, an den sie uns gebracht hatten, erstaunt.

»Bringt sie her«, ertönte eine Stimme aus dem Hindergrund. Die bekannte Stimme von Oma Ada.

Unter Bewachung gingen wir zwischen den Drehbänken und Kesseln entlang. Um uns herum dröhnte, klopfte und schrillte es — die abgeschalteten Geräte führten ihr eigenes Leben weiter. Semetzkis Rollstuhl schepperte über den Gitterboden und fügte der ganzen Sinfonie eine verwegene Note hinzu.

Danach nahmen wir eine gewundene Auffahrt zu einer Metallplattform direkt unter der Decke, bei den verschlafen herumhängenden Kränen.

Ada Schnee sah unverändert aus, als ob ihr mein Treffer kaum Schaden zugefügt hätte, war nach wie vor in Jeansanzug und Schuhen mit hohen Plateausohlen gekleidet, trug aber an Stelle des Kopftuchs einen schwarzen Turban, der die grauen Haare zusammenhielt. Sie sah allerdings etwas blass aus. Und ihre linke Schulter wirkte aufgebläht, war verbunden und in ein Regenerationskorsett gesteckt, das aus ihren Sachen herausschaute.

Ada Schnee war nicht allein. Neben ihr stand Alla Neige! Jetzt war zu erkennen, wie ähnlich die beiden einander waren. Hinter dem Rücken der Frauen sah ich zwei junge Männer. Zuerst hielt ich sie für Leibwächter, aber dann…

Dann ging ein Frösteln durch mich. So also werde ich mit dreißig Jahren aussehen! Mit Blastern in der Hand standen zwei männliche Klone von Oma Ada auf der Plattform. Der eine lächelte mir zu, der andere nickte. Ich wandte die Augen ab. Es war gruselig, sie anzusehen.

»Der Phag wird gefesselt«, befahl Schnee. »Dem alten Krüppel nehmt ihr das Kabel für den Neuroshunt weg. Die Übrigen können sich frei bewegen.«

Der Befehl war schnell ausgeführt. Stasj, der sich leicht dagegen sträubte, wurde an das Metallgeländer am Rande der Plattform gefesselt, indem die Handschelle an der linken Hand gelöst und ans Geländer geschlossen wurde. Bei Semetzki wurde das Kabel aus dem Shunt gerissen, sodass er zwar im Rollstuhl saß, aber hilflos war.

»Sind Sie sicher, dass wir Sie allein lassen sollen?«, fragte einer der Leibwächter.

»Ja, Sergeant«, nickte Ada Schnee. »Wir haben die Situation unter Kontrolle.«

»Es ist nicht nötig…«, sagte Alla Neige leise.

Die Frauen wechselten Blicke. Dann befahl Ada: »Postiert euch am Rand der Plattform. Passt auf. Beobachtet den Phagenjungen und auch die anderen.«

Die Leibwächter schauten sich triumphierend an und entfernten sich. Erst danach fing Schnee wieder an zu sprechen:

»Ich begrüße Sie, meine Herrschaften, im Namen der Föderation. Frau Präsidentin Snow bat mich, ihr Bedauern zu überbringen, dass sie nicht anwesend sein kann. Sie führt wichtige Verhandlungen mit den Halflingen.«

»Das macht nichts«, antwortete Stasj. »Wir haben Verständnis dafür. Der Verkauf der Menschheit im Ganzen ist eine aufwändige Tätigkeit.«

Ada Schnee lachte heiser. »Lass deine Demagogie, Dshedai. Wir kümmern uns um die Menschheit nicht weniger als ihr…«

»Phag«, berichtigte sie Stasj. Ada Schnee kümmerte sich nicht weiter um ihn:

»Wie geht es dir, Tikkirej?«

Ich schwieg. Ich konnte ja wohl kaum »gut« sagen.

»Tikkirej?«

»Gut, und Ihnen?«

Ada und alle Klone fingen an zu lächeln.

»Gut, Kleiner«, erwiderte Schnee. »Du wolltest mich ja auch nicht wirklich töten. Die Wunde ist unangenehm, heilt aber. Sag, Tikkirej, hast du mit deinem Freund gesprochen?«

»Sie wissen doch, dass ich mit ihm gesprochen habe«, murmelte ich.

»Ja, das weiß ich. Du hast dich davon überzeugt, dass du als Lockvogel nach Neu-Kuweit geschickt wurdest. Die Phagen haben ihre Angel nach mir ausgeworfen und du warst der Köder. War es eine angenehme Rolle?«

»Ich hätte den Phagen auch freiwillig geholfen«, antwortete ich. »Sie hätten mir ruhig sagen können, worum es geht. Aber ich habe Verständnis dafür, denn das ist alles sehr geheim. Und ich hätte mich verplappern können.«

Ada Schnee hob erstaunt ihre Augenbrauen.

Stasj begann leise zu lachen.

»Tikkirej, ich kenne dich durch und durch«, äußerte Ada und lachte herzlich. »Du — bist ich. Ich war ein kleiner Junge, ich war ein kleines Mädchen. Ich war Hunderte kleiner Mädchen und Jungen. Ich erinnere mich an mich selbst in deinem Alter. Alle deine Reaktionen sind vorhersehbar. So wie sich in einem bestimmten Alter jedes Kind einem erwachsenen Menschen anschließt, ihn blind kopiert, nachahmt, vergöttert. Aber trotzdem… warum verteidigst du die Phagen dermaßen?«

»Es kann schon sein, dass auch sie lügen«, gab ich zur Antwort. »Vielleicht haben sie sich mir gegenüber nicht gut verhalten. Aber…«

»Aber…?«, fuhr Schnee interessiert fort. »Aber Stasj ist dein Freund? Geht es nur darum?«

»Nicht nur. Die Phagen lügen ebenfalls, schämen sich aber dafür. Sie jedoch nicht.«

»Das nennt sich Pharisäertum, Tikkirej Frost, Heuchelei. Schlechte Taten vollbringen und sie bereuen.«

»Und dasselbe machen und nicht bereuen, das nennt man Gemeinheit!«

»Was ist gemein an der Tatsache, dass die Malocher eine neue Ideologie an Stelle einer anderen bekamen?«

»Dass Stasj von Menschen niemals als Malochern sprach.«

Ada Schnee schaute auf Alla Neige. Als ob eine Welt für sie zusammengebrochen wäre.

»Tikkirej«, begann Neige. »Du bist aufgeregt und durcheinander, aber versteh bitte…«

»Ich bin kein bisschen durcheinander«, erwiderte ich. »Im Augenblick bin ich völlig ruhig. Ich schaue Sie an und freue mich nicht, zu Ihnen zu gehören«

»Es ist unmöglich, dass du nicht auf unserer Seite stehst«, sagte einer der Männer und trat einen Schritt vor. »Tikkirej, vielleicht fällt es dir schwer, diese alten Weiber zu verstehen.« — Ada schnaubte ärgerlich — »Aber mich musst du doch verstehen. Wir sind gleich. Völlig identisch. In der Kindheit haben wir beide Milchreis gehasst und uns vor der Dunkelheit gefürchtet…«

»Ich hatte keine Angst vor der Dunkelheit«, meinte ich. »Kein bisschen. Vielleicht als ganz kleines Kind, aber dann hat mir Mama von der Sonne erzählt und dass immer irgendwo Licht ist. Ich wusste, dass Dunkelheit nicht auf ewig herrscht, sondern dass sie der Erholung dient.«

Jetzt schauten sich alle vier an. Und ich sprach, dabei völlig vergessend, dass ich eigentlich Gnade für Stasj und Semetzki erbitten wollte:

»Und überhaupt bin ich nicht so wie ihr. Ich bin für radioaktive Planeten modifiziert. Das heißt, dass ich etwas andere Gene habe. Ich hasse euch! Und ihr könnt nicht einmal verstehen, wie sehr und warum! Ihr seid eine Bande verrückter Klone, die beschlossen hat, an die Macht zu kommen. Wenn die Leute erfahren, wer ihr in Wirklichkeit seid, werden sie euch in Stücke reißen. Ihr tut mir direkt leid.«

»Das scheint eine weitere Fehlentwicklung zu sein…«, sagte Neige leise. Sehr leise, aber ich hatte es gehört. Und jubilierte! Ich hätte nie gedacht, dass man sich so über eine Drohung freuen könnte! Das bedeutete, dass sich nicht alle Klone den Verschwörern angeschlossen hatten und dass ich noch wirkliche Klonbrüder und Klonschwestern finden könnte. Normale, die nicht den Wunsch hatten, die Macht zu erobern und Kriege zu entfachen!

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