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Die Worte des Staatsanwaltes waren zwar verständlich, aber sehr geschraubt, wie in alten historischen Chroniken. Auch seine Stimme war festlich und düster, ganz wie in alten Filmen.

Im Anschluss fragte der Staatsanwalt Sjan Tien, ob dieser etwas erwidern wolle oder einen letzten Wunsch hätte — eine Zigarette, Alkohol, Drogen oder die Hilfe eines Angehörigen einer beliebigen allseits anerkannten Konfession.

Der Phag schaute ihn an, schüttelte den Kopf und blickte wieder über die Köpfe der Menge hinweg.

Lion versteckte sein Gesicht an meiner Schulter, und ich wusste, dass er sich die Hinrichtung nicht ansehen wollte und würde. Jetzt war er gar nicht mehr wie am Morgen, als er sich mit dem Jungen aus dem College geschlagen hatte.

Ein anderer Zivilist trat nach vorn und die Menschenmenge reagierte mit Applaus.

Dieser Mensch mittleren Alters war der Sultan, der Herrscher von Neu-Kuweit. Er sprach kurz über Wortbruch, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit und erklärte, dass er sich nach reiflichem Nachdenken dazu entschieden hätte, von seinem Recht auf Begnadigung keinen Gebrauch zu machen. Die Menge applaudierte.

Auf einmal begannen alle dermaßen zu toben, dass sich sogar Lion zum Gerüst umwandte. Das hier war eindeutig noch nicht die Hinrichtung. Hier ging etwas völlig anderes, wahrscheinlich Wichtigeres als jegliche Rechtssprechung vor sich.

Hinter dem Rücken der Zivilisten trat eine kleine Frau in einem langen Kleid, langen Spitzenhandschuhen und einem Gesichtsschleier hervor.

»Die Herrscherin!«, schrie Lion begeistert. »Frau Präsident!«

Die Menschenmenge tobte.

Ich wurde beinahe umgerissen, so eilig strömten alle zum Gerüst. Neben mir wurde vor lauter Begeisterung geschrieen, geweint und gelacht. Frauen und Kinder — es gab trotz allem Kinder in der Menschenmenge — wurden auf den Arm genommen und auf die Schultern gesetzt, damit sie die Präsidentin Inna Snow besser sehen konnten. Auch ich wurde plötzlich gepackt und fand mich auf den breiten Schultern eines solide wirkenden Mannes mit einem vor Begeisterung verzerrten Gesicht wieder. Er weinte und lachte gleichzeitig.

»Schau hin, Kleiner!«, schrie er mir zu. »Schau hin und präge es dir ein!« Und dann, mich sofort wieder vergessend: »Frau Präsident! Frau Präsident!«

Ich war der Situation hilflos ausgeliefert. Ich schaute mich um. Neben mir wurde Lion von einem dürren, jung aussehenden Mann genauso wie ich hochgehoben und auf die Schultern gesetzt. Ich sah mich um und realisierte, dass ich eine allgemeine Hysterie miterlebte: Die Menschen wollten nicht nur selber Inna Snow sehen, sondern auch anderen helfen, sie zu erblicken. Unweit von uns entfernt wurde ein recht erwachsener Mann nach oben gehoben. Er war von kleinem Wuchs und konnte deshalb schlecht sehen, was passierte.

Und wir wollten einen Überfall vorbereiten und Tien befreien!

Wie waren wir nur dumm und naiv… Diese Menschenmenge hätte jeden beim Versuch einer Attacke auf die Personen, die sich auf dem Gerüst befanden, in Stücke, in kleine Krümel, in Moleküle zerlegt!

»Was bist du so schweigsam, du brauchst dich nicht zu schämen!«, schrie mir der mich tragende Mann zu.

Ich wagte es nicht, ruhig zu bleiben.

»Inna Snow! Inna Snow!«, begann auch ich zu schreien. »HERR-SCHE-RIN! FRAU PRÄ-SI-DENT!«

Die Menge schäumte. Inna Snow hob eine Hand und begrüßte ihre Untertanen.

Dann hob sie die zweite Hand und alle verstummten.

»Das Böse schafft Böses, das Gute — Gutes«, verkündete Inna Snow. Ihre Stimme wurde ebenfalls verstärkt, aber sie schien zu flüstern, sehr zu Herzen gehend und nicht mit der Menschenmenge, sondern nur mit mir allein zu sprechen. Außerdem vibrierte ihre Stimme eigenartig, aber mir vertraut, als ob sie die ganze Zeit über Intonation und Timbre wechselte.

»Herrscherin…«, flüsterte auch ich. Ich hörte es nicht, sondern fühlte, wie jeder Einzelne auf dem Platz dieses Wort herausstieß, wie es sich wie ein leichter Sirenenklang durch die Straßen Agrabads verbreitete.

»Dieser Mensch kam zu uns mit dem Tod. Mit einem schlimmen, fürchterlichen Tod für jeden Einwohner Agrabads. Ich habe keine Angst um mich, denn ich kann nicht sterben. Und das Mindeste, das Gerechteste, was man tun kann, ist, diesen Menschen namens Sjan Tien zu richten.«

Die Masse schwieg und wartete.

Inna Snow starrte auf Tien: »Er brachte den Tod zu euch. Meinen Freunden. Meinen Kindern.« Und sie wandte sich von ihm ab.

»Wäre das aber wirkliche Gerechtigkeit? Ich möchte mich mit euch beratschlagen. Dieser Mensch ist ein Phag — ein genetisch modifizierter Mörder, ein Terrorist, herangezogen in den Labors des Avalon. Er hat nie seine Eltern kennen gelernt. Sein Genom ist ein Mosaik aus Genen, die von einem Dutzend Spendern stammen. Seit frühester Kindheit lehrte man ihn zu töten und zu verraten. Man hielt menschliche Gefühle von ihm fern, erzog ihn zu Grausamkeit und Unbarmherzigkeit, unfähig zu lieben, unfähig zu leiden. Er ist lediglich ein Instrument in den Händen einer feigen, käuflichen Macht, die ihr Ende nahen sieht. Ja, das Imperium ist bereit, die gesamte Galaxie mit Strömen heißen Menschenbluts zu überziehen und uns schutzlos und ausgeblutet den fremden Rassen zu überlassen. Aber werden wir auch nur einen überflüssigen Tropfen Blut in diesen Strom einspeisen? Ich weiß, wie gering die Chance ist, dass sich dieser Mensch ändern wird. Aber es gibt diese Chance. Können wir uns diese Barmherzigkeit leisten? Sind wir dafür stark genug? Glauben wir an uns? Sind wir fähig zu verzeihen?«

Die Menschenmenge schwieg. Ich schwieg ebenfalls. Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte. Die Herrscherin sollte mir einen Hinweis geben, mir erklären, was ich wollte — die Hinrichtung Tiens oder Barmherzigkeit.

»Wir erwidern Böses nicht mit Bösem«, flüsterte die Präsidentin ganz leise.

Ich erzitterte und schloss die Augen, als ich kapierte, wie für mich gedacht wurde. Was ist das hier für eine Einflüsterung? Sie faselt doch Unsinn, diese Inna Snow! So etwas ist Demagogie! Was heißt hier »Das Böse erschafft Böses«? Sjan Tien konnte nicht den ganzen Planeten mit einer todbringenden Krankheit infizieren, er hätte so etwas nie gemacht! Wieso benutzte man da einen menschlichen Terroristen? Man könnte viel eleganter aus dem Weltraum eine kleine Eiskapsel auf den Planeten werfen, die im Luftraum über der Hauptstadt schmelzen würde und schon wäre das Ziel erreicht! Und überhaupt sind die Phagen weder gefühllos noch erbarmungslos! Und das Imperium will mit niemandem Krieg führen!

Aus welchem Grund aber hatte ich begonnen genauso zu denken, wie Inna Snow es wollte? Ich gehörte doch nicht zu den Hirnamputierten!

Vielleicht deshalb, weil sich um mich herum Tausende Menschen befanden, die alle das Gleiche dachten? Das wäre dann eine Art Reihenschaltung. Man benötigt keinerlei Apparate, um alle Menschen gleichzuschalten, sie zu Teilen eines Mechanismus werden zu lassen: Mach sie zum Teil einer Menschenmasse! Schau mit den Augen der Masse, höre mit ihren Ohren, schreie mit ihrer Stimme!

Und schon erstirbt jeglicher Gedanke.

»Schenken wir diesem Menschen die Freiheit?«, stellte Inna Snow in den Raum. Sie schaute nach oben auf den schwebenden Flyer und der dunkle Schleier legte sich auf ihr Gesicht und zeichnete die Konturen nach. Die Menge stöhnte, als ob sie das Gesicht der Frau Präsidentin genauer sehen wollte. »Soll er sich zu seinem Herrn scheren, dieser treue Hund des Imperators! Soll er Zeugnis ablegen von unserer Verachtung, unserem Willen und unserer Kraft!«

»Ja!«, jauchzte die Menge. Mir dröhnten die Ohren. Der Mann, der mich hochgehoben hatte, sprang herum wie ein Kind und wedelte mit den Armen. Ich begann herunterzurutschen, er hielt mich fest, setzte mich wieder gerade und rief fröhlich:

»Wie gut sie ist! Junge, wie gut sie ist! Wie gut!«

»Du bist ein hirnamputierter Verrückter«, sagte ich. Er konnte mich sowieso nicht hören. Im selben Augenblick hatte er mich vergessen und fing wieder an mit den Armen zu wedeln. Um uns herum liefen die Leute Amok.

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