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Lion wurde ganz blass.

»So ist das bei uns«, meinte ich. »Na, wir haben nun einmal so einen Planeten, der nicht für Menschen geschaffen ist, verstehst du?«

»Tikkirej…«

»Ist schon gut.« Ich sah wieder aus dem Fenster. »Ich hätte an ihrer Stelle dasselbe gemacht. Und jetzt denke ich mir, ihr Opfer darf doch nicht umsonst gewesen sein!? Nicht nur dafür, dass ich am Leben bleiben konnte. Ich muss etwas Größeres leisten! Etwas wirklich Bedeutendes! Zum Beispiel, den Phagen bei der Beseitigung einer riesengroßen Ungerechtigkeit helfen.«

»Möchtest du denn nicht auf deinen Planeten zurückkehren und allen dort helfen?«, wollte Lion wissen.

»Wie denn helfen? Wir haben eine Demokratie. Jeder kann den Planeten verlassen, wenn es ihm dort nicht gefällt. Wir stimmen selbst über die Sozialleistungen ab. Und die Sozialarbeiter sind durchaus keine Unmenschen. Gegenwärtig wird darüber diskutiert, das Guthaben aufzustocken. Vielleicht werden dann in rund hundert Jahren Luft und Wasser kostenlos sein.«

Lion schüttelte den Kopf: »Soll das eine Rechtfertigung sein?«

»Nein, das ist keine Rechtfertigung. Es hat sich ganz einfach so entwickelt. Schau her, der Avalon ist ein sehr reicher Planet. Und hier gibt es noch massenhaft Platz. Man könnte alle unsere Bewohner hierher umsiedeln. Aber niemand macht das. Soll ich deshalb allen böse sein? Den Phagen, dem Imperator, den Bewohnern des Avalon?«

»Wofür soll man denn dann überhaupt kämpfen? Was haben die Phagen dann gegen Inej? Inej behelligt niemanden!«

»Inej lässt dir keine Wahl. Er nimmt die Freiheit.«

»Man könnte ja glauben, dass ihr auf Karijer eine Freiheit hättet!«

»Haben wir.«

»Und was ist das für eine Freiheit?«

»Eine miese. Aber trotzdem — eine Freiheit.«

Plötzlich begann mein Augenlid zu zucken. Ohne ersichtlichen Grund. Sicher fiel es mir schwer, meine Heimat zu verteidigen. Eine armselige Heimat, die mich Mutter und Vater gekostet hat und doch…

»Tikkirej… sei mir nicht böse«, murmelte Lion. »Vielleicht liege ich falsch, aber es ist schwer zu verstehen.«

»Um das zu verstehen, muss man bei uns leben«, erwiderte ich. »Du, zum Beispiel, hast darum gebeten, dass auf eurer Station eine echte Nacht und echter Schnee eingeführt werden. Und dir wurde erklärt, warum das nicht möglich ist. Ich habe mit Stasj einmal darüber geredet… Wir haben fünf Stunden zusammengesessen. Weißt du, es ist sehr einfach, einem Einzelnen zu helfen. So, wie Stasj mir und dir geholfen hat. Wenn jedoch eine ganze Welt Hilfe braucht, auch so eine kleine wie Karijer, kann ein Mensch allein nichts ausrichten. Nein, er kann nur alles durcheinanderbringen, zerstören, eine Revolution entfesseln. Aber das ändert nichts zum Besseren. Etwas Besseres kann nicht aufgezwungen werden. Es ist notwendig, dass sich die Menschen selbst verändern und ihr Leben aus eigenen Kräften ändern wollen. Du hast doch Unterricht in Geschichte gehabt? Im Zeitalter des dunklen Matriarchats hätten wir beide ein Hundehalsband getragen und uns vor jedem Mädchen verbeugt. Und hätten uns dafür geschämt, dass wir als Männer geboren wurden. Und schon damals gab es die Phagen. Auch sie trugen Halsbänder, kannst du dir das vorstellen? Und verbeugten sich. Und verteidigten die Zivilisation. Obwohl sie eine Revolution hätten auslösen können.«

»Das dunkle Matriarchat war notwendig«, sagte Lion. »Das wird allgemein anerkannt. Damals gab es nämlich Kriege und ohne die Frauen hätte sich die Menschheit selbst ausgelöscht. Und als die feministische Liga die Macht im Arabischen Imperium übernahm…«

»Streber!«, machte ich mich lustig.

»Jedenfalls war das Matriarchat am Anfang fortschrittlich«, fuhr Lion fort. »Aber was hat das mit Karijer und eurer Ordnung zu tun? Wozu wird so etwas gebraucht, kannst du mir das erklären?«

»Es könnte sein, dass die Menschheit irgendwann den Gürtel enger schnallen muss. Wenn uns zum Beispiel die Fremden einen Teil der Planeten abnehmen und die Menschheit auf schlechtere Planeten ohne ausreichende Ressourcen ausweichen muss. Dann wird eine ausgearbeitete soziale Überlebensstrategie notwendig sein. So wie auf Karijer. Stasj meint, dass die ganze Menschheitsgeschichte einem Tanz auf dem Schnee ähneln würde.«

»Wem?«

»Einem Tanz auf dem Schnee. Die Menschheit versucht schön und gut zu sein, obwohl es dafür keine Basis gibt. Verstehst du das? Als ob eine Ballerina im Ballettröckchen versuchen würde, auf Schnee zu tanzen. Aber der Schnee ist kalt. An manchen Stellen verkrustet, an manchen wiederum weich, und an manchen Stellen bricht sie ein und verletzt sich die Füße. Aber trotzdem muss sie versuchen weiterzutanzen, besser zu werden. Wider die Natur, im Kampf gegen alles. Sonst bleibt ihr nur noch übrig, sich in den Schnee zu legen und zu erfrieren.«

»Wenn du meinst… Es ist logisch, dass die Welt nicht von Anfang an perfekt sein kann. Alles Mögliche kann passieren. Aber es geht doch nicht, dass man experimentelle Planeten schafft, auf denen Menschen leiden müssen!«

»Das macht auch niemand mit Absicht«, antwortete ich. »Sie entstehen von selber. Genau das bedeutet Geschichte, Lion. DieMenschenhabenschonimmereigenartige Gesellschaftssysteme geschaffen, schon als sie nur auf einem Planetenlebten.Normalerweisegingendiese Gesellschaftsordnungen wieder unter, aber manchmal erwiesen sie sich als notwendig.«

»Okay, früher waren die Leute eben zurückgeblieben!« Lion machte eine energische Handbewegung. »Aber jetzt haben wir die passende Gesellschaftsordnung. So wie hier!«

»Ja. Und auf Neu-Kuweit ist sie wieder etwas anders. Auf der Erde und dem Edem auch. Und jeder lebt dort, wo es ihm gefällt. Darin ist nichts Schlechtes. Wenn jedoch überall die gleiche Gesellschaftsstruktur bestehen würde, hätten viele Leute Probleme damit. Selbst wenn diese Gesellschaftsordnung die beste von allen wäre. Auf Avalon ist zum Beispiel die Vielehe verboten, aber vielleicht gibt es jemanden, der gleichzeitig zwei Frauen liebt? Und was wird dann mit ihm, soll er das ganze Leben lang darunter leiden?«

Lion kicherte und meinte: »Mein Gott, das sind vielleicht Probleme…«

»Genau aus diesem Grund sind die Phagen wegen Inej beunruhigt«, erläuterte ich. »Vielleicht will Inej wirklich nichts Schlechtes. Und auf ihren Planeten ist die Lebensqualität auch nicht gesunken. Aber wenn das gesamte Imperium identisch sein wird, muss es früher oder später untergehen.«

»Das hast du alles von Stasj.«

»Ja. Denkst du, Stasj wäre ein Dummkopf? Wenn Inej den Menschen nicht das Gedächtnis programmiert hätte, sondern darum geworben hätte, sich ihnen anzuschließen, wäre niemand gegen das Vorhaben gewesen. Alle hätte man nämlich nicht überreden können.«

Lion neigte den Kopf, war aber nicht überzeugt. Sicher erinnerte er sich an seine Träume, in denen er für Inej gekämpft hatte.

»Wir müssen los, es ist Zeit«, sagte ich. »Iss deine Tortillas auf!«

»Ach, ich habe keinen Appetit mehr…« Lion stand auf, streckte seine Arme nach vorn und lehnte sich an die Glaswand. Dort stand er eine Weile und schaute auf den fallenden Schnee. Dann sagte er: »Ich hätte es trotzdem gern, dass es allen gleich gut geht.«

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