Yovell, Bolithos Schreiber, kam mit weiteren Papieren, die unterschrieben werden mußten, in die Kajüte. Unterstützt von Herricks eigenem Schreiber, war Yovell ein Turm im Papierkrieg der letzten Tage gewesen. Er hatte geholfen, Formulierungen zu finden, an denen kein Verpflegungsamt und kein Schiffslieferant herumdeuteln konnten. Herrick war diese Arbeit wie nichts sonst verhaßt, darum fragte er verzweifelt:»Noch mehr?»
Yovell lächelte.»Ein paar, Sir. Und ein Brief ist dabei für den Kurier nach London.»
Herrick warf einen gequälten Blick darauf. Er konnte sich nur schwer daran gewöhnen, auch für die anderen Schiffe mitdenken zu müssen. Sein eigenes Schiff in Gang zu halten, war schon schwer genug. Aber als Flaggkapitän mußte er sich um das gesamte Geschwader kümmern, die Relentless eingeschlossen.
Kapitän Peel hatte gemeldet, daß seinem Dritten Offizier, der im Gefecht mit dem feindlichen Geschwader verwundet worden war, das Bein amputiert werden mußte, und daß er nun im Marinehospital von Haslar lag. Peel forderte unverzüglichen Ersatz an, da noch keiner seiner eigenen Fähnriche das Alter und die Eignung zur Beförderung besaß. Er hoffte, ohne unnötige Verzögerung wieder Anker lichten und zum Geschwader zurückkehren zu können. Herrick dachte sofort an Pascoe, ließ den Gedanken aber gleich wieder fallen. Es konnte Tage, ja Wochen dauern, bis Bolitho zurückkam. Da wäre es unfair gewesen, den Jungen inzwischen wegzuschicken.
Yovell beobachtete ihn ungeduldig.»Soll ich einen Brief an den Ha-fenadmiral vorbereiten, Sir?»
Herrick rieb sich das Kinn. Es lagen mehrere Kriegsschiffe zur Reparatur im Hafen. Sicher hatte eines von ihnen einen Ersatzmann, einen jungen Offizier, der mit Begeisterung zu Kapitän Peel gehen würde.
«Ich denke darüber nach.»
Er wußte, daß Yovell mißbilligend den Kopf schüttelte, aber er wollte erst einmal mit Peel sprechen. Am besten lud er ihn zum Essen mit Dulcie ein. Herrick strahlte plötzlich über diese blendende Idee. Dulcie wußte sicher, was er tun sollte. Sie hatte ihm schon so viel Selbstvertrauen gegeben, daß er es kaum glauben konnte.
Herrick stand auf und ging ans seitliche Kajütfenster. Er wischte den feuchten Niederschlag von der Scheibe und blickte auf den Hafen hinaus. Es war Nachmittag, aber schon fast dunkel. Er konnte kaum die beiden mächtigen Dreidecker ausmachen, die querab von ihnen vor Anker lagen, aber auf dem Wasser entdeckte er zahlreiche auf-und abhüpfende Lichter: Laternen von Booten, die wie Käfer zwischen Schiffen und Ufer hin- und herfuhren.
Nur noch ein Tag, und dann würde er den wichtigsten aller Sätze unter seinen letzten Bericht schreiben:»Melde gehorsamst: Schiff ist seeklar!»
Nach dieser Liegezeit im Hafen würde es sie hart ankommen. Es klopfte, und Speke, der Zweite Offizier, trat über das Süll. Seine Augen schimmerten im Lampenlicht.»Was ist?»
Speke warf einen schnellen Blick auf den Schreiber; Herrick verstand und sagte:»Wir machen später weiter, Yovell. «Spekes Gesichtsausdruck ließ auf schlimme Neuigkeiten schließen.
«Ich glaube, Mr. Pascoe ist in Schwierigkeiten, Sir.»
«Was für Schwierigkeiten?«Herrick starrte ihn an.»Spucken Sie es aus, Mann!»
«Er war wachhabender Offizier, Sir. Ich löste ihn ab, als er um Erlaubnis bat, an Land gehen zu dürfen. Er sagte, es sei dringend. «Spe-ke zuckte die Achseln.»Mr. Pascoe ist zwar jung, aber erfahrener als mancher Ältere. Ich habe ihn nicht nach seinen Gründen gefragt.»
«Fahren Sie fort. «Herrick zwang sich, sich hinzusetzen und so ruhig zu erscheinen, wie er es oft von Bolitho gesehen hatte.
«Wir hatten fast den ganzen Tag einen Frischwasserprahm längsseit, Sir. Nachdem er abgelegt hatte, bemerkten wir, daß ein Mann des Arbeitskommandos mitgefahren sein mußte: desertiert. Midshipman Penels hatte das Kommando bei der Gruppe. Es waren alles zum Dienst gepreßte Landratten. Als ich sie antreten ließ, entdeckte ich,
daß der fehlende Mann Babbage war, dessen Bestrafung Sie kürzlich unterbrochen haben, Sir.»
Herrick sah ihn finster an.»Und Sie glauben, daß Midshipman Pe-nels diesem Babbage bei der Flucht geholfen hat?»
Speke sah ihm selbstgefällig ins Auge.»Ja, Sir. Mr. Penels hat es zugegeben, aber erst, nachdem Mr. Pascoe an Land gegangen war. Er hat sich über seine Tat derart geschämt, daß er glaubte, sie Mr. Pascoe gestehen zu müssen, der junge Narr. Babbage wird sowieso eingefangen und an der Großrah aufgeknüpft, aber wie die Dinge liegen…»
«Wie die Dinge liegen, ist der Dritte Offizier an Land gegangen, Mr. Speke, um den Deserteur zu suchen und an Bord zurückzubringen, bevor jemand entdeckte, daß er fehlt?»
«Richtig, Sir. Aber was Penels betrifft.»
«Holen Sie ihn.»
Herrick rückte unbehaglich in seinem Stuhl hin und her, während seine Gedanken sich überstürzten. Das war echt Pascoe, dachte er. Und genau das, was Bolitho getan hätte. Was ich auch getan hätte. Früher, dachte er.
Speke schob den verschreckten Jungen durch die Tür und sagte ärgerlich:»Sie können Ihren miesen Sternen danken, daß ich es war und nicht der Erste Offizier, der die Sache entdeckt hat. Mr. Wolfe hätte Sie in Stücke gerissen.»
«Langsam!«Herricks Ton brachte Speke zum Schweigen.
«Was haben Sie mit diesem Babbage vereinbart?»
«Ich — ich hatte nur den einen Gedanken, ihm zu helfen, Sir. Nach allem, was er zu Hause für mich getan hat. «Penels war den Tränen nahe.»Er hatte solche Angst, noch einmal ausgepeitscht zu werden. Ich mußte ihm helfen, Sir.»
«Wohin wollte er, hat er das gesagt?«Herrick fühlte seine Geduld schwinden.»Los, Junge, Mr. Pascoe ist vielleicht in Gefahr. Und er wollte Ihnen helfen, denken Sie daran!»
Herrick haßte es, die Schmach und Verzweiflung des Jungen zu nutzen, aber er wußte, daß es noch schlimmer kommen würde.
Mit unsicherer Stimme flüsterte Penels:»Er wollte ein Lokal suchen, daß >The Grapes< heißt. Einer der älteren Leute hat das erzählt.»
Speke grunzte.»Ein sehr übles Lokal, Sir. Selbst das Preßkommando geht da nicht ohne ausreichenden Schutz hin.»
Penels — nur noch ein Häufchen Unglück — fuhr fort:»Er wollte dort warten, bis ich Geld aufgetrieben hatte. Damit hoffte er, nach Corn-wall zurückkehren zu können.»
Herrick blickte auf die Karaffe. Sie war leer und seine Kehle so trocken wie ein Sandhaufen.
«Meine Empfehlung an Mr. Clinton, und bitten Sie ihn zu mir.»
Speke eilte davon, und Herrick sagte:»Nun, Mr. Penels, wenigstens waren Sie so klug, Mr. Speke zu berichten, was Sie getan haben. Es ist zwar nicht viel, aber es mag helfen.»
Der Major trat ein und fragte:»Kann ich behilflich sein, Sir?»
Clinton verschwendete nicht den kleinsten Blick auf den zusammengesackten Midshipman, und Herrick entnahm daraus, daß Speke ihn schon informiert hatte. Wahrscheinlich wußte das ganze Schiff Bescheid.
«Mr. Pascoe ist zu den >Grapes< unterwegs, Major. Sagt Ihnen das etwas?»
Clinton nickte.»Eine Menge, Sir. «Er fuhr fort:»Wenn Sie erlauben, gehe ich sofort an Land. Ich nehme Mr. Marston und einige meiner Jungs mit.»
«Vielen Dank, Major Clinton, ich bin Ihnen sehr verbunden.»
Augenblicke später hörte Herrick Pfiffe und Kommandorufe und anschließend das Knarren von Taljen, als ein Boot ausgeschwenkt wurde. Dann Getrappel von Stiefeln, als einige ausgesuchte Seesoldaten Clintons unerwarteter Aufforderung folgten.
Herrick beobachtete den schnüffelnden Midshipman einige Sekunden lang und sagte dann:»Ich habe Sie auf Bitten eines alten Freundes an Bord genommen. Ich weiß nicht, wie er oder gar Ihre Mutter diese Geschichte aufnehmen werden. Nun begeben Sie sich nach unten, und melden Sie sich beim ältesten Wachtmeistersmaaten.»
Als Penels tränenblind nach der Tür tastete, sagte Herrick sehr ruhig:»Wenn Sie in Ihrer Koje liegen, denken Sie einmal über folgendes nach: Eines Tages hätten Sie Leute unter sich gehabt, deren Leben von Ihrer Entscheidung abhing. Fragen Sie sich selber, ob das richtig wäre.»