Bock.
Bolitho zögerte noch. Er drehte sich um und warf einen Blick durch das Hafentor auf die Reede hinaus. Viele Schiffe lagen draußen vor Anker, aber er suchte die Benbow. In zwei Wochen begann ein neues Jahr: 1802. Was mochte es der Benbow und allen, die sie auf ihren mächtigen Planken trug, bringen?
Endlich kletterte er in die Kutsche und ließ sich erleichtert in die weichen Kissen sinken.
«Haben Sie Schmerzen, Sir? Wir können hier eine Zeitlang stehenbleiben, wenn Sie es wünschen. Wagen und Pferde stehen zu Ihrer Verfügung, so lange Sie es wünschen.»
Bolitho bewegte sein Bein probeweise.»Das muß aber ein sehr guter Freund sein.»
«Ihm gehört die halbe Grafschaft, Sir.»
Bolitho zwang seine Glieder, sich Zentimeter um Zentimeter zu entspannen.»Fahren Sie los. Die Arbeit des Doktors scheint zu halten. «Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. Dabei kehrten noch einmal all die flüchtigen Erinnerungen zurück: Alldays Gesicht, die Gehilfen des Schiffarztes rundum, die Schmerzen, seine eigene Stimme, ächzend und flehend wie die eines Fremden. Und dann dieser Morgen. Die Seeleute, die ihm zujubelten. Er hatte sie an die Schwelle des Todes geführt, und sie wünschten ihm trotzdem noch Gutes.
Die Bewegungen der Kutsche glichen denen eines Bootes in kabbeligem Wasser, und als das Geklapper der Hufe und Knarren der Räder auf Kopfsteinpflaster in das dumpfe Geräusch einer schlammigen Landstraße überging, übermannte Bolitho der Schlaf.
«Brrr, Ned! Halt, Blazer!»
Bolitho schreckte aus seinem Schlaf hoch und bemerkte gleich mehrere Dinge auf einmal: daß es viel kälter geworden war und daß sich Graupelkörner in den Ecken der Wagenfenster gesammelt hatten. Außerdem schaukelte sein Sitz heftig. Das lag daran, daß Browne mit aller Gewalt versuchte, das Fenster zu öffnen. Er hielt dabei eine gespannte Pistole in der anderen Hand.
Browne fluchte:»Gottverdammich, es ist festgeklemmt!«Er bemerkte, daß Bolitho aufgewacht war, und setzte unnötigerweise hinzu:
«Draußen gibt's Schwierigkeiten, Sir. Straßenräuber, oder so ähnlich.»
Das Fenster fiel so plötzlich herunter wie das Messer einer Guillotine, die kalte Luft strömte herein und füllte in Sekunden das Wageninnere.
Bolitho hörte, daß die Pferde unter Kontrolle waren und ihre Hufe nur auf sumpfigem Untergrund schlitterten. Es war der recht Ort für einen Raubüberfall, weit und breit kein Haus zu sehen.
Der Wagen hielt, und ein Mann mit weißen Augenbrauen schaute zu ihnen herein.
Bolitho schob Brownes Pistole zur Seite. Es war Allday, Gesicht und Brust mit Schnee und Graupelkörnern bedeckt.
Allday sagte:»Ein Unfall, Sir. Der andere Wagen ist von der Straße abgekommen. Jemand scheint verletzt zu sein.»
Browne kletterte aus dem Wagen und protestierte, als Bolitho ihm folgte.
Draußen blies ein starker, stetiger Wind, und als die beiden Offiziere sich hinter Allday vorwärtskämpften, wehten ihre schweren Bootsumhänge wie Banner aus. Der Kutscher war auf seinem Bock geblieben und beruhigte die Pferde, die mit dampfenden Leibern nervös stampften.
Die andere Kutsche, kleiner als ihre, lag im Graben neben der Straße. Ein Pferd stand in der Nähe und schien völlig unbeteiligt am Geschehen. Neben dem Hinterrad hob sich ein Blutflecken deutlich vom Schneematsch ab.
Allday sagte:»Hier unten, Sir!«Er arbeitete sich mühsam den Abhang hoch und schleppte dabei einen Mann hinter sich her. Dessen eines Bein stand in einem unnatürlichen Winkel ab, offensichtlich war es gebrochen.
«Vorsichtig!«Browne kniete schon neben ihm.»Bewußtlos, der arme Teufel.»
Allday sagte:»Sieht aus, als habe er wegkriechen wollen. Um Hilfe zu holen, nehme ich an.»
Sie sahen einander an, und Bolitho befahl:»Schauen Sie in der Kutsche nach. Hier, ziehen Sie mich hoch!»
Mit einigen Schwierigkeiten bekamen sie die Tür auf und schlugen sie wie den Deckel einer Stückpforte zurück. Die andere Seite des Wagens lag tief im Matsch.
Bolitho sagte:»Es ist eine Frau. Und ganz allein. «Er packte den Türrahmen so fest, daß das zersplitterte Holz seine Haut ritzte. Das konnte doch nicht sein! Er schlief noch, und dies war nur ein quälendes Traumgebilde.
Er spürte Allday neben sich.»Alles in Ordnung, Sir?»
«Schauen Sie hinein!«Kaum konnte er seine Stimme beherrschen.
Allday zwängte ein Bein durch den Türspalt und schlüpfte dann vorsichtig hinein. Drinnen schien es ohne den beißenden Wind und die Nässe fast warm. Er streckte die Hand aus und berührte die Frau, fuhr aber erschreckt zurück, als ihr Kopf ihm langsam entgegensank.
«O mein Gott!»
Bolitho sagte:»Helfen Sie mir hinein!»
Er fühlte nicht einmal, daß sein bandagiertes Bein gegen die Tür stieß. Alles, was er sah, war der Körper der Frau. Ihr Samtmantel war ihr durch den Sturz auf die Füße gerutscht. Das gleiche lange, kastanienbraune Haar, fast das gleiche Gesicht, ähnliche Züge. Sie mußte sogar in Cheneys Alter sein, dachte er verzweifelt.
Vorsichtig, fast ohne zu atmen, umfaßte er ihre Schultern und fühlte zögern nach ihrem Herzen. Nichts. Er konzentrierte sich, dachte an die Kraft, die von Allday ausging. Sie mußte leben!
Da, ein schwacher Herzschlag unter seinen Fingern.
Allday sagte heiser:»Nichts gebrochen, Sir. Nur eine häßliche Beule an der Schläfe.«Überraschend zart wischte er ein paar Haarsträhnen aus ihrem Gesicht.»Ich würde es einfach nicht glauben, wenn Sie nicht hier wären.»
Bolitho hielt sie vorsichtig in den Armen, spürte ihren schwachen Atem und fühlte, wie sich ihr Körper an seinem erwärmte.
Er hörte Browne von der Straße rufen:»Was ist los, Sir?«Von seinem Platz bei dem verletzten Kutscher konnte er wahrscheinlich nichts sehen. Was war denn los? Bolitho überlegte. Ein Mädchen, das wie Cheney aussah, aber nicht Cheney war. Eine Kapriole des Schicksals, die sie hier auf der leeren Straße zusammengeführt hatte, sicher nur für einen Augenblick.
Allday sagte:»Wir tragen sie am besten in unseren Wagen, Sir. «Er sah Bolitho besorgt an.»Wenn wir nicht gekommen wären, hätten sie bei dieser Kälte kaum überlebt.»
Bolitho kletterte verwirrt aus dem Wagen. Die ganze Szene war so, wie er sie sich immer vorgestellt hatte: der zerschmetterte, umgestürzte Wagen und darin wie in einer Falle Cheney mit dem Kind unter ihrem Herzen. Der Kutscher tödlich verletzt, aber Ferguson, sein einarmiger Verwalter, bei ihr. Irgendwie hatte Ferguson es geschafft, Cheney auf der Suche nach Hilfe zwei Meilen weit zu tragen, aber ohne Erfolg. Bolitho hatte sich das Bild so oft vorgestellt. Wenn diese Fremden hier Schauspieler gewesen wären, hätten sie es nicht wahrhaftiger, nicht grausamer nachstellen können.
Browne sagte:»Ich habe sein Bein provisorisch geschient. Er ist noch etwas benommen. «Unsicher spähte er durch den Schneeregen, sein Dreispitz glitzerte wie Glas.»Lord Swinburnes Landsitz liegt hier in der Nähe. «Er rief ihrem Kutscher zu:»Kennen Sie ihn?»
Der Kutscher nickte, offenbar nicht gewillt, weiter in die Sache hineingezogen zu werden.»Ja, Sir.»
In diesem Augenblick schien Browne zu bemerken, daß da noch etwas anderes vorsichging. Er beobachtete Allday, der die bewußtlose Frau zum Wagen trug, und wandte sich an Bolitho, um ihn zu befragen. Aber Bolitho kletterte schon in ihren Wagen, das Gesicht so verschlossen, wie Browne es noch nie gesehen hatte.
Allday kam zurück und sah sich den verletzten Kutscher an.
Browne flüsterte ihm wütend zu:»Was ist eigentlich los, Mann?»
Allday blieb ruhig, obwohl er innerlich kochte.»Mr. Browne, Sir — wenn Sie dem Amiral helfen wollen, dann schlage ich vor, daß Sie in dem anderen Wagen mit nach Gepäckstücken suchen. Hier werden sich bald Diebe einfinden wie Krähen um den Galgen. Dann könnten Sie vielleicht das Pferd hinten an unseren Wagen binden. Ich kann mit Pferden nicht umgehen.»
Als Browne sich gehorsam zur umgestürzten Kutsche begab, fügte Allday hinzu:»Der Admiral wird es Ihnen später erklären, Sir. Das ist keine Mißachtung Ihrer Person, nichts für ungut.»