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Bolitho führte das Teleskop langsam die graue Küstenlinie entlang. Wenn doch bloß das Schneetreiben aufhören wollte! Aber im stillen wußte er, daß der Schnee ihr einziger Verbündeter war, ihr Schutz gegen vorzeitige Entdeckung.

Gestalten bewegten sich rastlos um ihn herum. Gelegentliches Klirren von Metall oder das Schrammen einer Handspake drangen in die kleine, kreisrunde Welt seines Blickfeldes und beunruhigten ihn. Er versuchte, sich alles in Erinnerung zu rufen, was er auf der Seekarte und in Neales Notizen gelesen hatte. Ein felsiger Landvorsprung mußte irgendwo da vorne an ihrer Leeseite in Sicht kommen, und dahinter sollten die Schiffe liegen. Bolitho biß sich auf die Lippen, um seine jagenden Gedanken und Zweifel im Zaum zu halten. Er hörte Neale fragen:»Soll ich die Flagge hissen, Sir?»

«Ja, bitte. Und ich empfehle, Kriegsflaggen am Fockmast und am Großmast zu setzen. Wenn unsere gekaperten Handelsschiffe da drüben sind, brauchen sie so viele Hinweise, wie wir ihnen gegen können.»

Er blickte zur Besanstenge empor, wo seine eigene Flagge wehte, seit er von der Benbow übergestiegen war. Sie konnte bei den Franzosen — oder wer sie auch angreifen würde — den Eindruck erwecken, als wären weitere britische Schiffe zur Unterstützung im Anmarsch. Selbst sehr junge Admirale pflegten nicht auf einer einzelnen Fregatte herumzustreifen. Bolitho fragte:»Wie ist der Wind?»

Der Master antwortete sofort:»Hat einen Strich gedreht, Sir. Kommt aus Nordwesten.»

Bolitho nickte. Er war viel zu sehr von seinen Gedanken in Anspruch genommen, um zu merken, daß ein scharfer Ton in seine Stimme gekommen war.

«Lassen Sie drei Strich abfallen. Wir wollen die Landzunge so dicht wie möglich umfahren.»

Der Master sagte:»Jawohl, aber ich…«, fing jedoch Neales Blick auf und ließ seinen Einspruch ungesagt.

Das große Steuerrad drehte sich knarrend, drei Mann standen breitbeinig daran, um auf den vereisten Decksplanken das Gleichgewicht zu halten, und beobachteten Segel und Kompaß wie Habichte.

Schließlich meldete der Master:»Kurs Ost zu Nord liegt an, Sir.»

Bolitho achtete nicht auf die Seeleute, die umherrannten, um Segel und Rahen zu trimmen, noch auf das Getrampel der Leute auf dem Achterdeck, die das gleiche für den Besanmast taten. Neale hatte eine Menge gelernt. Allein unter Marssegeln, Fock und Klüver reagierte die Styx gut und drängte unter ihrer vereisten Leinwand vorwärts, als wolle sie sich aus eigenem Antrieb in die Schlacht stürzen.

Er blickte auf die Geschützbedienungen, die — um sich gegenseitig warmzuhalten — zusammengerückt, aber jederzeit sprungbereit waren. Der Sand, der um die langen Zwölfpfünder aufs Deck gestreut worden war, damit die Leute nicht ausrutschten, hatte sich in flüssiges Gold verwandelt.

Wie leuchteten die roten Röcke der Seesoldaten in dem eigenartigen Licht! Unter der Schneekappe, die sich auf ihren Hüten gesammelt hatte, sahen sie aus wie weihnachtliches Kinderspielzeug.

Er sah Pascoe bei den vorderen Geschützen, eine Hand am Säbel, die schlanke Gestalt leicht im regelmäßigen Auf und Ab des Vorstevens mitschwingend. Er sprach mit einem anderen jüngeren Offizier, wahrscheinlich über ihre Chancen. So war es immer. Man versuchte, ruhig zu scheinen, nüchtern zu bleiben, auch wenn das Herz wie in einen Schraubstock gepreßt war und man sich einbildete, jeder Matrose in der Nähe müßte hören, wie heftig es schlug.

«Land in Sicht über den Lee-Bug, Sir!«Eine kurze Pause, dann:»Fast recht voraus!»

Neale rief scharf:»Schicken Sie einen Mann in die vorderen Rüsten, Mr. Pickthorn. Er soll in fünfzehn Minuten anfangen zu loten.»

Wenn er fürchtete, daß sein Schiff auf Grund laufen könnte, so verbarg er es recht gut, dachte Bolitho.

Bolitho richtete sein Glas wieder aufs Ufer. Das Land schien sehr nahe zu sein. Eine Sinnestäuschung, er wußte es, aber wenn der Wind plötzlich drehte oder einschlief, mußte es ihnen schwerfallen, sich vom Ufer freizusegeln.

Neale sagte:»Bergen Sie die Fock. «Und dann, indem er näher heranrückte, zu Bolitho:»Kann ich einen Strich höher an den Wind gehen, Sir?»

Bolitho ließ das Glas sinken und sah ihn an.»Gut.»

Er blickte hinauf zu den prächtigen Flaggen an Mastspitzen und Gaffel und fühlte dabei, wie Schneeflocken in seinen Augen schmolzen und seine Lippen netzten. Das beruhigte ihn.

Die große Breitfock wurde mühsam an den Gleitauen zu ihrer Rah hochgezogen, Matrosen legten auf den Fußpferden aus und schlugen mit den Fäusten wie wild gewordene Affen auf die hartgefrorene Leinwand ein. Eisstücke fielen wie Glassplitter durch die Schutznetze auf die Geschützbedienungen. Bolitho sah einen Unteroffizier sich bücken, ein Stück aufheben und in den Mund stecken.

Ein vertrautes Anzeichen: der Mund war wie ausgetrocknet und verlangte nach Bier oder Wasser, irgend etwas Trinkbarem.

Wenn die Leute in England sie doch so hätten sehen können, dachte Bolitho grimmig. Diese Sorte Männer lebte in der ganzen Flotte im Schmutz, kämpfte aber großartig und unglaublich tapfer. Einige von ihnen waren sicher der Auswurf der Gefängnisse, mißbraucht an Land und auf See, aber nur sie allein standen zwischen England und Napoleon — oder wer sonst Englands Feinde waren. Er hätte beinahe gelächelt, als er sich erinnerte, was sein Vater einmal gesagt hatte:»England muß Feinde lieben, Richard. Wir machen uns so viele.»

Der Erste Offizier rief:»Erlaubnis zum Laden, Sir?»

Neale warf einen Blick auf Bolitho und erwiderte:»Ja. Aber keine doppelte Ladung. Die Bodenstücke sind durchgefroren, da könnte es mehr Schaden bei uns als bei den Franzosen geben!»

Bolitho verschränkte die Hände auf dem Rücken. Sie vertrauten ihm so sehr, daß sie den Feind im Geist schon vor sich sahen. Wenn die Bucht nun leer war, würde dieses Vertrauen einen argen Stoß bekommen.

Der Arm des Lotgasten beschrieb eine ausholende Kreisbewegung, dann ließ er Lot und Leine in der Vorwärtsbewegung los und beugte sich vor, um sie weit voraus ins Wasser platschen zu sehen. Wenn der Lotkörper den Boden berührte, würde die Leine bei ihm auf und nieder, also senkrecht, stehen.

«Gerade zehn!«{Zehn Faden = 18,39 Meter}

Bolitho spürte, wie der Master unruhig ums Steuerrad ging und sicher an den felsigen Grund unter ihrem kupferbeschlagenen Schiffsboden dachte.

Das Lot klatschte wieder ins Wasser.

«Einhalb über neun!»

Bolitho biß die Zähne zusammen. Sie mußten so nahe wie möglich heran. Er sah die große Steinplatte der Landzunge drohend über Bugspriet und Klüverbaum emporsteigen.

«Gerade sieben!»

Der Leutnant der Seesoldaten räusperte sich nervös, und einer der Seeleute von der Achterdecksmannschaft sprang entsetzt auf.»Gerade fünf!»

Bolitho bemerkte, wie der Master seinem Kommandanten etwas zuflüsterte. Dreißig Fuß {30 Fuß = 9,15 Meter} Wasser unter dem Kiel, das war nicht viel angesichts der Nähe des abschüssigen Ufers.

«Vier Faden!«rief der Lotgast ungerührt aus. Als wäre er überzeugt, daß er sowieso sterben müsse, ohne etwas dagegen tun zu können.

Bolitho hob wieder das Glas. Zwei einzelne Wohnhäuser standen wie Haufen heller Ziegelsteine am Abhang. Darüber abziehender Rauch — oder was sonst? Das Schneetreiben verhinderte, daß er es klarer erkennen konnte. Rauch von einem Herdfeuer am frühen Morgen? Oder eine Batterie, die gewarnt war und ihre Kanonenkugeln glühend machte, um der unverschämten Styx einen heißen Empfang zu bereiten?

Er sah die Brandung gegen die Felsen schlagen und sich an der scharf gezackten Eiskante gefährlich auftürmen.»Luven Sie zwei Strich an, Captain Neale. «Er schob das Teleskop mit einem Klicken zusammen und übergab es einem Midshipman.

Die Matrosen hatten den Befehl erwartet wie Sprinter den Startschuß, und als die Rahen im Gleichklang mit dem Ruder herumschwangen, drehte die Fregatte stetig nach Luv, während die Felszunge wie eine große steinerne Tür zurückfiel. Der Lotgast rief:»Gerade zehn!«Von irgendwoher hörte man ein ironisches» Bravo«.»Kurs Nordost liegt an, Sir! Segel voll und dichtgeholt!«Bolitho packte wieder die Reling des Achterdecks, wie er es so oft und auf so vielen Schiffen getan hatte.

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