Keverne beobachtete, wie das Prisenschiff die Marssegel setzte und sich schwerfällig an der Festungsmauer vorbeiquetschte. Wie alle Schiffe des kleinen Geleits nach Gibraltar war es mit Menschen vollgestopft, Gefangenen und Zivilisten. Das würde eine unbequeme Reise werden, dachte Keverne.
Er hörte Schritte hinter sich — Bolitho.»Sieht nach gutem Wind aus«, sagte er.»Signal an Geschwader: >Anker lichten.< Dann laufen Sie bitte Kurs Nordwest zu Nord, wie Sir Lucius angeordnet hat.»
«Klar bei Ankerspill!«brüllte Keverne. Ein Midshipman kritzelte die Order auf seine Tafel, und die Signalgasten suchten bereits die Flaggen heraus.
«Die Hekla kommt jetzt von der Festung klar, Sir«, meldete Mids-hipman Tothill.
Bolitho nahm ein Teleskop und richtete es auf den kleinen Bombenwerfer. Abgesehen von einem Kutter, der das Sprengkommando im allerletzten Moment aufnehmen sollte, war die Hekla das letzte Fahrzeug, das die Bucht verließ. Jetzt lag Djafou wieder einsam da mit seiner Hinterlassenschaft an Leid und Tod, den Erinnerungen an Sieg und Niederlage. Vielleicht würde eines Tages wieder jemand versuchen, diesen Ort zu besetzen, das Kastell aufzubauen, dort wieder eine Basis für Tyrannei und Sklavenjagd zu errichten. Aber hoffentlich würden bis dahin derartige Praktiken der allgemeinen Verurteilung anheimgefallen sein.
Die Hekla stürzte sich mit vollen Marssegeln in die ersten Wellen der ablandigen Dünung. Es war nicht leicht, das Teleskop mit einer Hand zu halten; betroffen merkte er, daß ihm bereits vor Anstrengung der Atem stockte. Aber nur noch einen Augenblick! Er ließ das Glas langsam über das Vorschiff der Hekla gleiten, wo die Matrosen in den karierten Hemden scheinbar sinnlos durcheinanderliefen und das
Schiff auf Kurs brachten. Dann sah er Inch, der sich an der niedrigen Reling festklammerte, den mageren Körper gegen die Schräglage neigend — er schwenkte seinen Hut. Vor ein paar Tagen noch hatte er auf dem gleichen ungeschützten Deck gestanden, umtost von den wild feuernden Karronaden; und dann hatte er sich erschrocken und bekümmert über Bolitho gebeugt, den die Kugel jenes unbekannten Schützen auf die Planken geworfen hatte. Wie deutlich er sich daran erinnerte! Jetzt segelte Inch mit seiner merkwürdigen Ladung voll schwatzender Passagiere einem neuen Wendepunkt seines Lebens entgegen; und es war nur zu hoffen, daß er Gibraltar erreichte, ohne auf einen Feind zu stoßen.
Bolitho fuhr zusammen: dort neben Inch stand jetzt jemand. Obwohl die Hekla schon eine gute halbe Meile entfernt war, konnte er Kates Haar im Wind fliegen sehen; hell glänzte ihr gelbes Kleid in der strahlenden Sonne. Sie winkte ebenfalls, zeigte lächelnd die weißen Zähne im gebräunten Gesicht und er glaubte ihre Stimme zu hören, der er nachts gelauscht hatte, als ringsum alles still gewesen war.
«Hier, nehmen Sie das Glas, Mr. Tothill!»
Immer noch steif vom Wundfieber faßte er mit gespreizten Beinen festen Stand und schwenkte langsam den Hut. Manche, die es sahen, wunderten sich. Aber Allday, der bei der Leiter stand, lächelte dankbar.
Es war eine knappe Sache gewesen. Und wenn sie nicht. Ein Schauer überlief ihn. Er wandte sich um und sah Calvert nach, der niedergeschlagen den Decksgang entlangschlenderte und sich lustlos gegen die Netze lehnte. Er schien sich mehr denn je in sein Inneres zurückzuziehen und sprach kaum, auch nicht mit den anderen Offizieren. Sehr schade, dachte Allday, denn der Flaggleutnant hatte keine Ahnung, mit welcher Bewunderung man von ihm in den überfüllten Wohndecks sprach, seit er wieder an Bord war. Allday schüttelte den Kopf. Zweifellos hatte Calvert einen reichen Vater, der ihm den Hals retten würde, aber vielleicht lag ihm gar nichts mehr daran. Wie er dastand und in die kabbelige See starrte, war sein Gesicht vollkommen ausdruckslos.
«Ah, Calvert!«Alle blickten sich um: Broughton eilte munteren Schrittes aus der Hütte.»Kommen Sie her!«rief er.
Calvert ging nach achtern und faßte an den Hut.»Sir?«fragte er mißtrauisch.
«Ich habe eine Menge für Sie zu tun. «Lässig blickte Broughton zur Hekla hinüber, die ihren stumpfen Bug in eine trag anrollende Welle grub. Dann warf er einen kurzen Blick auf Bolitho, verzog die Lippen zum Schatten eines Lächelns und wandte sich wieder an Calvert:»Vielleicht würden Sie mit mir speisen, wenn wir mit dem Schreibkram fertig sind — eh?»
Allday sah, daß Calvert der Mund offen blieb, und war verwirrter denn je. Sogar Broughton hatte anscheinend seine Haltung Calvert gegenüber geändert.
Bolitho hatte den Admiral gehört und wandte sich ihm zu.»Pardon, Sir. Ich habe Sie nicht kommen sehen.»
«Schon gut«, nickte Broughton.
«Das Geschwader hat bestätigt, Sir«, meldete Tothill, der die flüchtige Episode nicht mitbekommen hatte.
Bolitho drehte sich um und rief:»Machen Sie weiter, Mr. Keverne!»
Während das Signal des Flaggschiffs von der Rah verschwand, wurde es an Deck lebendig: Segel wurden gesetzt. Auf die Reling gestützt sah Bolitho zu, wie die Toppmatrosen oben auslegten und die Leinwand freigaben, die sich mit explosionsartigem Knall im Winde entfaltete.
«Anker ist los, Sir!«meldete Meheux. Dort im Vorschiff, wo er stand und Handzeichen gab, sah er gegen die ferne Landzunge ganz wichtig aus.
Schwerfällig neigte sich die Euryalus über ihr Spiegelbild, bis die unteren Stückpforten durch die Wasserlinie schnitten. Die Matrosen holten die Brassen noch dichter, die Männer am Rad hielten hart ge-genan; majestätisch, doch gehorsam beugte sich das Schiff den Kräften von Wind und Ruder.
Keverne brüllte durch sein Sprechrohr:»Lebhaft bei Leebrassen! Treiben Sie die faulen Hunde an! Auf der Valorous klappt es besser als bei uns!»
Bolitho lehnte sich über die Reling und sah zu, wie der Anker, mit triefenden Strängen gelben Seegrases an den mächtigen Fluken, gelichtet und von Meheux' geschäftigen Matrosen gereinigt wurde.
Er sah zur anderen Seite hinüber. Auf der Coquette und der Restless standen bereits die Bramsegel. Beide Schiffe stürmten durch Fontänen von Gischt vorwärts und entfernten sich rasch von den schweren Schiffen.
«Nordwest zu Nord, Sir!«rief Partridge, rieb sich das Salzwasser aus den Augen und spähte hinauf zu den gebraßten Rahen, zu dem immer steifer stehenden Großmarssegel, unter dessen Druck die Euryalus jetzt merklich überholte.»Kurs liegt an, Sir!«meldete er.
Broughton griff sich ein Teleskop und befahl nervös:»Signal an alle: >Positionen einhaltenValorous, die mit killendem Klüver drehte, um ins Kielwasser des Flaggschiffs einzuscheren.
«Kann ich Bramsegel setzen, Sir?«fragte Keverne.
Bolitho nickte.»Nutzen Sie den Wind ruhig aus.»
Gerade als Keverne eilig zur Reling schritt, war ein vibrierendes Dröhnen zu vernehmen. Jedes freie Teleskop im ganzen Geschwader blinkte in der Sonne. Aller Augen waren auf die ferne Festung gerichtet. Dann brach das Dröhnen ab, und mit furchtbarer Plötzlichkeit stiegen mehrere turmhohe Flammen- und Rauchwände auf, massig und fest wie für die Ewigkeit und alles verbergend, was dahinter geschah.
Doch der Wind blies den widerstrebenden Rauch schließlich auseinander, und Bolitho sah die Ruinen des Kastells. Der innere Turm war vollkommen eingestürzt, wie der Schornstein eines alten Brennofens; Mauern und Brustwehren wären nur noch Schutt. Nacheinander folgten noch ein paar Explosionen im Festungsinnern; er konnte sich vorstellen, wie liebevoll Inchs Stückmeister, Mr. Broome, die einzelnen Ladungen plaziert hatte. Er hielt den Atem an, als etwas Kleines, Dunkles, Schmales aus dem Rauch kam und hinaus auf See glitt: Broome und seine Männer hatten sich im letzten Moment abgesetzt.
Nachdenklich sagte Giffard:»Dieser Bau hat allerhand erlebt, bei Gott!»
«Das läßt sich nicht leugnen, Hauptmann Giffard«, stimmte Brough-ton mit einem Blick auf Bolithos Rücken und einem leichten Lächeln zu.