Литмир - Электронная Библиотека

Er setzte das Glas ab und zerrte an seinem Hemd, das ihm bereits wie ein heißes Handtuch am Leibe klebte. Je mehr er darüber nachgrübelte, was er in Djafou vorgefunden hatte, um so mehr war er davon überzeugt, daß der Ort als Basis unbrauchbar war. Gedankenverloren verschränkte er die Hände auf dem Rücken und begann, langsam auf den heißen Steinen auf- und abzugehen; und wenn seine Füße eine Strecke zurückgelegt hatten, die seiner gewohnten Strecke auf dem Achterdeck der Euryalus entsprach, dann drehte er automatisch um.

Wenn die letzte Entscheidung bei ihm gelegen hätte — hätte er dann anders gehandelt als Broughton? Und würde er jetzt mit einer Mißerfolgsmeldung nach Gibraltar zurückkehren oder weiter nach Osten segeln, ohne den Oberkommandierenden zu fragen, auf die vage Hoffnung hin, eine passende Bucht oder einen passenden Meeresarm zu entdecken? Die Degenscheide schlug ihm bei jedem Schritt an den Schenkel, und seine Gedanken wanderten zu dem gräßlichen Mann-gegen-Mann-Kampf dieser Nacht zurück. Jedesmal, wenn er sich auf so ein tollkühnes Unternehmen einließ, verringerte er damit seine eigenen Überlebenschancen. Das wußte er ganz genau, aber er konnte nicht anders. Fourneaux und mancher andere dachten vielleicht, wenn er seine ihm zukommende Rolle als Flaggkapitän aufgab und persönlich an solchen gefährlichen Aktionen teilnahm, täte er das aus Geltungsbedürfnis oder sinnloser Ruhmsucht. Wie konnte er jenen seine wahren Gründe erklären, wenn er sie nicht einmal selber genau verstand? Eins wußte er jedenfalls: nie würde er seine Männer ihr Leben für einen zweifelhaften, seinem eigenen Hirn entsprungenen Plan riskieren lassen, wenn er nicht mit dabei war und Erfolg oder Mißlingen mit ihnen teilte.

Er lächelte grimmig. Deswegen würde er auch nie Admiral werden. Er mochte eine Schlacht nach der anderen mitmachen, seine Erfahrungen an die kaum ausgebildeten jungen Offiziere weiterge ben, die befördert wurden, um die immer größer werdenden Lücken zu füllen, die der Krieg hinterließ. Und eines Tages, entweder an einem Ort wie diesem oder an Deck irgendeines Schiffes, würde er den Preis bezahlen müssen. Auch jetzt wieder betete er flehentlich, es möge so schnell gehen, wie eine Tür zugeschlagen wird. Und im selben Moment wußte er: das war unwahrscheinlich. Er dachte an Lucey und an jene anderen, die unten in dem großen kühlen Vorratsraum lagen, der als Krankenrevier benutzt wurde. Der Schiffsarzt der Coquette tat sein Bestes, gewiß — aber viele würden langsam sterben, ohne andere schmerzstillende Mittel als den Schnapsvorrat der Festung, der Gott sei Dank reichlich war.

Bolitho blieb an der Brustwehr stehen. Eben legte ein Boot von der Coquette ab und nahm Kurs aufs Kastell. Auch von der Hekla kam ein Boot. Vor lauter Nachdenken hatte er vergessen, daß er Inch und Cap-tain Gillmor eingeladen hatte, mit ihm zu speisen. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Vielleicht hatte einer von ihnen eine Antwort auf die Frage, warum die Spanier Djafou trotz seiner strategischen Nutzlosigkeit gehalten hatten.

Später, als er mit den beiden Offizieren in dem kühlen Kommandeurszimmer bei einem Krug Wein saß, wunderte ihn die Art, wie sie alle beide ihre Erfahrungen und Gesichtspunkte dieses kurzen, wilden Gefechts darlegten und Vergleiche zogen. Man konnte sich nur schwer vorstellen, daß sie nur eine knappe Stunde geschlafen hatten und auch in der nächsten Zeit kaum zur Ruhe kommen würden. Aber die Marine war eine gute Schule für Durchhaltevermögen. Jahrelanges Wachegehen mit kurzen Schlummerpausen zwischen dem endlosen Segelsetzen, Segelkürzen, Kreuzen oder Reparieren von Sturmschäden machte auch den Faulsten so hart, daß er eine fast unbegrenzte Zeit ohne Schlaf durchstehen konnte.

Inch schilderte gerade, wie aufgeregt sie alle an Bord der Hekla gewesen waren, als die Artilleriebeobachter der Marine-Infanterie den Einschlag des ersten Schusses signalisiert hatten; da trat Allday ein und meldete, Bickford sei von seiner Expedition ins Dorf zurück.

Bickford sah erschöpft aus, seine Uniform war voller Sand und Staub; er goß seinen Wein mit offensichtlichem Durst hinunter.»Ein Ort des Grauens, Sir«, berichtete er und schüttelte noch nachträglich den Kopf über seine schlimme Entdeckung.»Da wohnt schon seit Jahren niemand mehr. Keine Menschen, heißt das.»

Spottend sagte Gillmor:»Na, na, Mr. Bickford! Kobolde werden es doch bestimmt nicht sein!»

«Nein, Sir«, erwiderte Bickford mit tödlichem Ernst.»Hinter den Häusern haben wir eine große Grube gefunden, voller Menschenknochen. Viele Hunderte müssen sie da hineingeworfen haben, allem möglichen Viehzeug aus den Bergen zum Fraß.»

Erschrocken starrte Bolitho ihn an; Kälte stieg in seinem Herzen hoch. Die ganze Zeit war es dagewesen, und er hatte es nicht gesehen: das nächste Teilstück dieses Puzzlespiels.

«Die meisten Häuser«, fuhr der Leutnant fort,»bestehen bloß noch aus den Außenwänden. Aber da gibt es Ketten…»«

«Sklaven!«sagte Bolitho, und alle starrten ihn an. Sklaven. Unglaublich, daß er so lange gebraucht hatte, um zu sehen, was auf der Hand lag. Oder vielleicht hatte sich sein Unterbewußtsein dagegen gesträubt. Was sonst hätte Draffen hier für Geschäfte tätigen können? Geschäfte, die ihn bis nach Westindien und in die Karibik geführt hatten, wo er während der amerikanischen Revolution mit Hugh zusammengekommen war? Die Mauren hatten dieses Kastell erbaut, um jenen scheußlichen Menschenhandel zu schützen und zu fördern, und nach ihnen waren andere gekommen: Berberpiraten, arabische Sklavenjäger, die weit umherschweiften und dann ihre hilflosen Opfer hierherschafften. Hier war der Umschlagplatz für ihren blühenden Sklavenhandel gewesen.

Wie einfach es für Draffen gewesen war! Sein anscheinend selbstloses Angebot, die britische Flottenpräsenz im Mittelmeer zu fördern, war purer Eigennutz, und indem er Broughton veranlaßt hatte, die spanische Garnison zu erobern, hatte er sich den Weg für den ständigen Sklavennachschub eröffnet.

«Sie müssen aus vielen Teilen des Landes hierhergebracht worden sein«, sprach Bolitho weiter.»Karawanenwege, die wahrscheinlich schon Jahrhunderte alt sind, führen in die Berge. «Er konnte seine bitteren Gedanken nicht für sich behalten.»Ich habe keinen Zweifel daran, daß mancher in Westindien und Amerika auf Kosten dieser armen Teufel reich geworden ist.»

«Na ja«, sagte Gillmor unbehaglich,»Sklavenhandel hat es immer gegeben.»

Bolitho musterte ihn gelassen.»Skorbut hat es auch immer gegeben, aber nur ein Narr würde nichts dagegen tun!»

Ärgerlich wandte Gillmor sich ab.»Mein Gott, wie mich dieses Land anekelt! Sobald man nur den Fuß drauf setzt, kommt man sich vor wie angesteckt, wie unrein!»

«Sir Hugo Draffen wird das nicht gern hören, Sir«, warf Inch ein.

«Da können Sie recht haben. «Bolitho schenkte ihnen ein; der Krug zitterte in seiner Hand. Sprach man zu Leuten seiner eigenen Art, dann schien alles klar und einfach. Aber er wußte aus alter Erfahrung, daß es in der strengen Atmosphäre eines Kriegsgerichtshofes, viele Meilen vom Ort des Geschehens entfernt und vielleicht viele Monate später, nicht mehr so sauber und richtig klang. Draffen war ein einflußreicher Mann, das bewies schon der Umfang seiner Geschäfte. Broughton hatte Angst vor ihm, und sicher besaß er in England viele Verbündete. Schließlich hatte er eine Basis für das erste Vordringen des Geschwaders im Mittelmeer entdeckt. Im Krieg mußte man alles nutzen. Sein glattzüngiges Versprechen, einen neuen Alliierten zu gewinnen, um die Bewegungen des Feindes an der Küste zu stören, konnte sehr wohl Deckmantel für seine ganz persönlichen Ziele sein.

Bolitho ging langsam zum Fenster und spürte ihre Augen in seinem Rücken. Ebenso leicht, wie er ihnen jetzt den Rücken drehte, konnte er auch Draffen und seinen Geschäften den Rücken drehen. Er war Flaggkapitän, und bei weiterreichenden Entscheidungen hatte er nicht viel mitzureden. Niemand konnte ihm deswegen etwas anhaben, und wenige würden ihn dafür tadeln. Broughtons Flagge wehte über dem Geschwader und seinen Aktionen, und damit hatte Broughton auch die Verantwortung.

72
{"b":"113273","o":1}