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Keverne wartete schon. Sein brünettes Gesicht war undurchdringlich, als er an den Hut faßte und dienstlich meldete:»Zwei Minuten,

Sir.»

Bolitho musterte den Leutnant nachdenklich. Wenn Keverne über den plötzlichen Verlust seiner Aussicht auf ein selbständiges Kommando enttäuscht war, so zeigte er es jedenfalls nicht. Und wenn er sich über die Gefühle seines Kommandanten Gedanken machte, so verbarg er das ebenfalls.

Bolitho nickte und schritt langsam zur Luvseite des Decks, wo die Leutnants des Schiffes bereits Aufstellung genommen hatten. Etwas weiter nach Lee zu standen die höheren Deckoffiziere und die Mid-shipmen in sauber ausgerichteten Reihen, die mit den Schiffsbewegungen leise schwankten.

Ein rascher Blick nach achtern bestätigte ihm, daß Giffards MarineInfanteristen vor der Kampanje aufmarschiert waren. Ihre roten Röcke leuchteten grell in der Sonne, ebenso die weißen, gekreuzten Schulterriemen und die blankgewichsten Stiefel.

Er wandte sich um, trat zur Achterdecksreling und ließ seine Augen über die Masse der Matrosen gleiten, die sich auf den Decksgängen, bei den aufgeblockten Booten drängten, sich am Rigg festhielten, als wollten sie um keinen Preis das bevorstehende Drama versäumen. Aber die dumpfe Stille, die Atmosphäre grimmiger Erwartung verrieten ihm, daß sie in diesem Falle, so abgebrüht und so gewohnt an schnelle, harte Disziplinarstrafen sie auch sein mochten, kein Verständnis für das Urteil hatten.

Acht Glasen tönten vom Vorschiff, und er sah, wie die Offiziere Haltung annahmen: Broughton, von Leutnant Calvert begleitet, kam flotten Schrittes auf das Achterdeck. Wortlos faßte Bolitho an den

Hut.

Die Luft über dem Ankerplatz erzitterte von einem einzelnen, dumpfen Kanonenschuß. Dann folgte der trübselige Wirbel der Trommeln. Er sah, wie der Schiffsarzt unten an der Fallreepspforte mit Tebutt flüsterte; der eine seiner beiden Maate trug den wohlbekannten roten Leinwandsack. Letzterer schlug die Augen nieder, als er sah, daß sein Kommandant ihn anblickte.

Broughtons Finger trommelten auf den Griff seines schöngearbeiteten Degens, anscheinend im Takt mit dem fernen Trommelwirbel. Er sah so entspannt und frisch aus wie immer.

Bolitho versteifte sich, als er sah, daß sich einer der jungen Mid-shipmen mit der Hand über den Mund fuhr, eine rasche nervöse Bewegung, die unvermittelt eine Erinnerung wach werden ließ, wie den Schmerz einer alten Wunde.

Er selbst war erst vierzehn gewesen, als er zum erstenmal eine Auspeitschung durch die ganze Flotte hatte mitansehen müssen. Das meiste davon hatte er nur durch einen Nebel von Tränen und Übelkeit wahrgenommen und war diesen Alpdruck nie ganz losgeworden. In einem Dienst, bei dem die Peitsche ein ganz gewöhnliches, allgemein akzeptiertes Strafmittel war, in manchen Fällen sogar ein durchaus gerechtfertigtes, war diese schwerste Form auch die schlimmste für die Zuschauer, die sich dabei fast ebenso erniedrigt vorkamen wie der Delinquent.

«Wir werden heute nachmittag Anker lichten, Bolitho«, bemerkte Broughton beiläufig.»Unser Ziel ist Gibralter, wo ich weitere Order und Nachricht über die neuesten Entwicklungen erhalten werde. «Er sah zu seiner Flagge am Fockmast hoch und schloß:»Ein prächtiger Tag dafür.»

Bolitho blickte zur Seite und versuchte, seine Ohren vor dem nicht endenwollenden Trommelwirbel zu verschließen.

«Alle Schiffe sind voll provisioniert, Sir. «Er hielt inne. Broughton wußte das so gut wie er selbst. Es war nur, um etwas zu sagen. Warum machte dieses eine Geschehen alles zunichte? Er mußte doch inzwischen begriffen haben, daß er nicht mehr der junge Fregattenkapitän von früher war. Damals hatten die Menschen noch Gesichter gehabt und waren wirkliche Individuen gewesen. Wenn einer litt, dann spürte es das ganze überfüllte Schiff. Jetzt mußte er sich damit abfinden, daß die Menschen keine Individuen mehr waren. Sie waren Notwendigkeiten wie die Artillerie und die Takelage, der Süßwasservorrat und die Planken, auf denen er stand.

Er merkte, daß Broughton ihn beobachtete, und drehte absichtlich den Kopf weg. Aber die Menschen waren ihm wichtig, sie dauerten ihn, und er würde sich darin auch nicht ändern, das wußte er genau; nicht Broughtons wegen, nicht einmal seiner eigenen Beförderung in einem Dienst zuliebe, den er jetzt nötiger brauchte denn je.

Um den Bug der Zeus, des nächstliegenden Vierundsiebzigers, kam eine langsame Prozession von Kuttern, einer von jedem Schiff des Geschwaders; ihre Riemen hoben und senkten sich im Takt mit dem Armesündermarsch der Trommeln. Das Boot der Euryalus war das zweite in der Reihe, dunkelgrün wie die anderen, die jetzt auf den Blöcken festgelascht waren, von schweigenden Männern umstanden. In jedem Boot der Prozession saßen Marine-Infanteristen, deren tödlich glitzernde Bajonette und scharlachrote Röcke etwas Farbe in die grimme Linie der jetzt leicht abfallenden und Kurs auf das Flaggschiff nehmenden Boote brachten.

Leise sagte Broughton:»Es wird nicht allzu lange dauern, denke ich.»

«Riemen hoch!»

Der Kutter der Auriga glitt längsseit und machte an den Großrüsten fest. Die anderen schwankten über ihrem Spiegelbild im Wasser, stumme Zeugen des Strafvollzugs.

Keverne reichte Bolitho die Kriegsartikel, und dieser schritt rasch zur Fallreepspforte. Schiffsarzt Spargo und die beiden Bootsmannsmaaten waren bereits unten im Kutter, und der erstere blickte hoch, als Bolithos Schatten über die wie erstarrt sitzenden Rudergasten fiel.»Delinquent straffähig, Sir«, meldete er.

Bolitho zwang sich dazu, auf die Gestalt im Kutter hinunterzuschauen. Weit vorgebeugt, die Arme an einer Gangspillspake festgelascht wie ein Gekreuzigter — man konnte kaum glauben, daß es Taylor war. Der Mann, der zu ihm gekommen war. Um Hilfe. Um Vergebung und… Er nahm den Hut ab, schlug das Buch auf und verlas den Abschnitt der Kriegsartikel über Meuterei und ihre Bestrafung.

Unten im Boot bewegte sich Taylor etwas; Bolitho hielt inne und schaute nochmals hinunter. Auf den Spanten und Planken des Bootes stand Blut. Schwarzes Blut, nicht das Blut der Schlacht. Schwarz wie die Hautfetzen, die von Taylors zerhauenem Rücken hingen. Schwarz und aufgerissen, so daß die freiliegenden Knochen in der Sonne wie Marmor glänzten.

Der Bootsmaat blickte hoch und fragte gepreßt:»Zwei Dutzend,

Sir?»

«Tut Eure Pflicht.»

Bolitho setzte den Hut wieder auf und sah starr auf den nächstliegenden Zweidecker. Der Maat holte aus und schlug mit furchtbarer Kraft zu,

Bolitho hörte Schritte neben sich, und dann Broughtons gelassene Stimme:»Er scheint es ja ganz gut auszuhalten. «Ohne Anteilnahme, ohne echtes Interesse, nur eine beiläufige Bemerkung.

Ebenso unvermittelt wie es begonnen hatte, war es vorbei, und als das Boot ablegte und weiter zum nächsten Schiff fuhr, sah Bolitho, wie Taylor versuchte, den Kopf zu heben und zu ihm hinaufzublicken. Aber er schaffte es schon nicht mehr.

Bolitho wandte sich weg; ihm wurde übel beim Anblick des verzerrten Gesichts, der zerbissenen Lippen, dieses Stückes Fleisch, das einmal John Taylor gewesen war.

«Lassen Sie die Leute wegtreten, Mr. Keverne«, sagte er rauh. Unwillkürlich sah er der sich neu formierenden Prozession nach. Zwei Schiffe noch. Taylor würde es bestimmt nicht überleben. Ein jüngerer Mann vielleicht. Aber Taylor nicht.

Wiederum, ganz dicht an seinem Ohr, hörte er Broughtons Stimme:»Wenn er nicht früher unter Ihnen gedient hätte — auf der Sparrow, nicht wahr? — , dann würden Sie es nicht so persönlich nehmen und wären nicht so — äh — empfindlich.»

Da Bolitho nicht antwortete, fuhr er fort:»Ein Exempel mußte statuiert werden. Die Leute werden es nicht vergessen.»

Bolitho richtete sich auf und sah Sir Lucius voll ins Gesicht. Mit fester Stimme entgegnete er:»Und ich auch nicht, Sir.»

Sekundenlang sahen sie einander in die Augen, dann ließ Broughton das Visier wieder fallen.»Ich gehe wieder nach unten. Setzen Sie zu gegebener Zeit das Signal an alle Kommandanten.»

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