Die halbnackten, geduckten Gestalten mit ihren Zöpfen und den entschlossenen Gesichtern hatten auf Bolitho noch kurz zuvor wie Statuen oder wie aus einem großen Schlachtengemälde herausgeschnitten gewirkt. Jetzt mußte er mit Brechreiz kämpfen, als er an derselben Stelle nur noch ein blutiges Gewirr von abgerissenen Gliedern, Fleischfetzen und weißlich hervorstehenden Knochen sah.
Trudgeons Leute waren fleißig bei der Arbeit, die schreienden Verwundeten herauszuziehen und mit Flüchen zum Schweigen zu bringen. Er sah, wie Carlyon sich über ein Speigatt erbrach.
Allday sagte trocken:»Das war ein mieser Schuß, Käpt'n.»
Und in dem Augenblick feuerte das französische Schiff ein zweites Mal. Sein Kommandant hatte nicht die Absicht, mit einem Gegner handgemein zu werden, der schon zwei seiner Gefährten zusammengeschossen hatte, ohne selber — von dem einen Mast abgesehen — sichtbaren Schaden zu nehmen. Er wollte vor dem Winde ablaufen, vorher schnell noch diese eine Breitseite in das Vorschiff des englischen Vierundsiebzigers donnern und dann verschwinden.
Die Luft schien plötzlich erfüllt von kreischendem Metall und umhersausenden Holzsplittern. Männer wurden — wie von einem wilden Raubtier — hochgeworfen und zerrissen. Mit zusammengebissenen Zähnen beobachtete Bolitho, daß der Fockmast erzitterte wie ein junger Baum unter dem ersten Beilhieb, und dann zunächst gemächlich, dann mit gewaltigem Aufschlag auf das voll besetzte Vorschiff niederstürzte. Die Hyperion gierte stark, als der Wind in die verbliebene Leinwand faßte. Er hörte die schrillen Schreie der Leute, die unter dem schweren Gewicht der Rahen und des stehenden und laufenden Gutes begraben lagen. Matrosen und Soldaten, die Sekunden zuvor noch mit den Karronaden auf den Feind gezielt hatten, lagen zerquetscht unter den Trümmern oder waren über die Reling ins Wasser gefegt worden.
Tomlin und seine Männer kletterten in das Gewirr, aber ihre Zahl war geringer als bisher, und ihre Bewegungen wirkten langsamer.
Inch rief plötzlich:»Hier kommt die Hermes!»
Bolitho schlitterte durch Blutlachen auf die Steuerbordseite, wo er sich hochzog, um über die Hängemattsnetze hinwegschauen zu können. Die Hermes hatte ebenfalls den Besanmast verloren, aber ihre Kanonen feuerten noch fast vollzählig auf den französischen Zweidecker, und die Kugeln schlugen akkurat längs der Wasserlinie des Feindes ein.
Weiter achteraus war der Qualm so dick, daß man nicht erkennen konnte, wer Freund oder Feind war, aber man hörte unaufhörlich
Kanonendonner. Also war auch Herrick noch da. Und noch im Kampf.
Inch zog Bolitho am Rock, und als er aufs Deck zurücksprang, sah er ihn aufgeregt gestikulieren.
«Sir, die Tornade hat gewendet! Sie überholt die Hermes und hält auf uns zu!»
Bolitho beobachtete, daß der Qualm erst dicker zu werden schien, dann plötzlich aufbrach und den vorgestreckten Klüverbaum und danach die Galionsfigur des gewaltigen Hundert-KanonenFlaggschiffs freigab. Trotz der dramatischen Situation empfand Bolitho kalte Bewunderung für die seemännische Leistung des französischen Kommandanten, der — fast im Winde liegend — seine überlegene Artillerie einsetzte und eine volle Breitseite in das ungeschützte Heck der Hermes feuerte.
Selbst auf die Entfernung von zwei Kabellängen konnte Bolitho hören, wie die todbringende Salve von achtern bis vorn durch das Schiff fegte und die Decks in ein Schlachthaus verwandelte.
Die großen Zweiunddreißig-Pfund-Kugeln mußten den Großmast an seinem Fuß getroffen haben, denn er fiel, mit allen Stengen und Rahen und den Männern, die sich vergeblich zu retten versuchten. Sein Wimpel zeigte dabei immer noch die Windrichtung an.
Wie von einem großen Blasebalg hochgepreßt, stieg schwarzer Rauch über dem Hauptdeck der Hermes auf, und als die Männer an den Kanonen der Hyperion erschreckt hinüberstarrten, wurde die Luft von einer ohrenbetäubenden Explosion erschüttert. Die Torna-de aber hatte sich schon wieder etwas abgesetzt und kam nun von Backbord achtern bei der Hyperion auf.
Die Explosion — wahrscheinlich war es das Pulvermagazin — hatte die Hermes fast in zwei Teile zerrissen, in deren Mitte gewaltige Flammen zum Himmel hochschlugen und den Fockmast mit seinen restlichen Segeln verschlangen wie ein obszöner Drache eine Lanze.
Noch eine Explosion, und dann noch eine, erschütterten das unselige Schiff, das sich — nur wenige Minuten nach dem Einschlagen der Breitseite — auf die Seite legte. Bolitho sah, wie das Wasser in seine offenen Stückpforten strömte, während die wenigen Überlebenden kopflos auf dem immer steiler werdenden Deck herumrannten, einige brennend als lebende Fackeln. Die Pforten ihrer oberen
Batterie glühten noch wie feurige Augen, bis auch hier das Wasser hineinströmte und die Brände löschte. Hinter einer Wand von brodelndem Dampf verschwand die Hermes schließlich unter der mit Trümmern bedeckten Wasseroberfläche.
Einer der Rudergänger hatte sich vom Steuerrad entfernt, um zuzuschauen. Er fiel auf die Knie, bekreuzigte sich und wimmerte:»Jesus! O süßer Herr Jesus!«Gossett, eine Hand in einer blutigen Binde, zog ihn hoch und schnauzte ihn an:»Dies ist kein schwimmendes Bethaus! Zurück auf Ihre Station, oder ich nehme Sie aus wie einen verdammten Hering!»
Bolitho wandte sich ab und befahl:»Klarieren Sie das Zeug am Vorsteven!«Er sah, daß Inch noch gebannt auf das sterbende Schiff blickte.»Gehen Sie selber nach vorn, und kümmern Sie sich darum, der Franzose hat uns sonst gleich am Wickel.»
Er wandte sich nach achtern, um die Tornade zu beobachten, die offenbar ihren neuen Kurs auf die Hyperion aufgenommen hatte. Immerhin waren auch ihre Vorsegel schon stark durchlöchert. Aber diesmal hatte sie die Luvposition, und sicher hegte sie die Absicht, den schon schwer beschädigten Gegner zu überholen und im Vorbeilaufen zur Übergabe zu zwingen. Bolitho beobachtete ihr bedrohliches Näherkommen fast gelassen. Es war nun bald vorüber. Sie hatten Lequillers Geschwader so großen Schaden zugefügt, daß er seinen Plan unmöglich noch in vollem Umfang verwirklichen konnte. Von weither hörte er die scharfen Detonationen der Geschütze der Spartan und vermutete, daß Farquhar mit der San Leandro Katz und Maus spielte. Sie hatten eine gute Vorstellung gegeben. Er schaute auf sein Schiff hinunter, und der Anblick zerriß ihm fast das Herz. Überall lagen Tote und Verwundete, und die verbliebenen Leute hatten alle Hände voll zu tun, die Trümmer wegzuräumen und das am Vorsteven außenbords hängende Tauwerk und Tuch wegzuschlagen. An den Kanonen befand sich kaum noch eine Seele. Dann schaute er zum Großtopp hinauf, von dem jetzt eine neue Flagge wehte. Lequiller sah sie sicher auch und erinnerte sich vielleicht daran, daß dies dasselbe Schiff war, das in der Gironde-Mündung vor Anker gelegen hatte und — allein gegen eine große Übermacht — seinen Ausbruch in die offene See verhindern wollte. Nun trafen sie sich also wieder. Zu einem letzten Ringen.
Langsam ging er, das Kinn auf die Brust gesenkt, über die zersplitterten Decksplanken. Diesmal war die Hyperion hier, um Le-quillers Rückkehr an Land zu verhindern. Er blickte erstaunt auf, denn es war ihm, als hätte jemand seine Gedanken laut ausgesprochen.
Er rief mit heiserer Stimme:»Macht schnell, Mr. Inch!«Dann fragte er Gossett:»Wird sie wieder auf das Ruder reagieren?»
Der Master rieb sich das Kinn.»Mag sein, Sir.»
Bolitho sah ihn streng an:»Kein: >mag sein<, Mr. Gossett. Ich möchte Steuerwirkung haben, nichts anderes.»
Gossett nickte. Sein grobes Gesicht war durch die Anstrengungen und Sorgen gezeichnet.
Bolitho eilte zum Niedergang und auf das Hauptdeck hinunter. Am Luk zum unteren Batteriedeck rief er:»Mr. Beauclerk!«Er war überrascht, als das verschmutzte Gesicht eines Midshipman unter ihm erschien.