Pelham-Martin schien ihn nicht zu hören. Er starrte aufs Wasser, das von dem zunehmenden Licht aufgehellt wurde. Der Horizont trat nun klar hervor und auch ein dunkler, unregelmäßiger Streifen Land, der vom immer wieder in die Wellen eintauchenden Klüverbaum wie ein Stück Seetang mitgeschleppt zu werden schien.
«Leer!«Er wühlte in seiner Manteltasche, als wolle er sein seidenes Schnupftuch hervorholen.»Nichts!»
Es gab ein leises Klicken, als der Schiffsjunge das Halbstundenglas neben dem Kompaß umkippte.
Bolitho nickte Inch zu.»Schicken Sie die Leute auf Gefechtstationen!»
Der Kommodore starrte ihn verzweifelt an.»Nur zwei Schiffe!«Er verstummte, als die Trommeln zu dröhnen begannen und Matrosen und Seesoldaten an Deck strömten und auf ihre Plätze rannten.
Bolitho sagte:»Sie reichen völlig aus. Sir.»
Er konnte die Angst des Mannes fast fühlen. Es schien, als habe der Anblick der aufgewühlten See und des Wirrwarrs von Inseln ihm die Last seiner Verantwortung erst richtig bewußt gemacht. Im nächsten Augenblick mochte er den Rest seiner Selbstbeherrschung verlieren. Das war genauso, wie der junge Gascoigne es beschrieben hatte, als ihm bei seiner ersten Wache die Dinge über den Kopf zu wachsen und außerhalb jeder Kontrolle zu geraten schienen.
Er sagte barsch:»Es ist ein guter Tag dafür, Sir. Und falls die Franzosen hier sind, werden sie wahrscheinlich noch schlafen, wenn die Spartan ihnen ihren Besuch abstattet.»
Bolitho registrierte, daß die Schläge und Stöße unter Deck aufgehört hatten, und als er über die Querreling nach vorn schaute, sah er die Männer auf ihren Gefechtstationen sitzen. Als einzige bewegten sich die Schiffsjungen, die eifrig von Geschütz zu Geschütz liefen und Sand aufs Deck streuten. Die Kanoniere würden einen festen Halt für ihre Füße brauchen, wenn der Wind noch weiter zunahm.
Pelham-Martin sagte tonlos:»Würden Sie bitte jemanden schik-ken, der meinen Degen holt?«Er knöpfte ungeschickt an seinem schweren Mantel herum und legte ihn schließlich ganz ab.
Bolitho sah, daß er dieselbe goldbestickte Uniform trug, in der er an Bord gekommen war. In der er auch die Nacht verbracht hatte.
Einer der Seeleute von der Backbordbatterie, der gerade dabei war, sich das Halstuch um die Ohren zu binden, sah den Kommodore und schwenkte es impulsiv über dem Kopf.»Ein Hoch, Leute! Hurra!»
Bolitho sagte ruhig:»Sehen Sie, Sir: Alle schauen heute auf Sie!»
Dann wandte er sich ab, weil er nicht zusehen mochte, wie All-day den Gurt um die umfangreiche Taille des Kommodore schlang. Sein Gesicht schien bei dem einsamen Hochruf noch stärker zusammengeschrumpft zu sein. Es war der Ausdruck eines Mannes unter dem Galgen.
XV Hiobsbotschaft
Bolitho stellte sich breitbeinig hin und wartete, bis das Deck nach einer heftigen Schlingerbewegung wieder zur Ruhe gekommen war, bevor er das Fernrohr ans Auge hob. Das Tageslicht hatte schnell zugenommen, und so konnte er den gezackten Höhenrücken der nächstgelegenen Insel ausmachen, der sich kaum von den niedrig hängenden Wolken abhob. Dahinter lag eine kleinere Insel, deren Spitze wie der Bug einer antiken Galeere die vordere Insel überlappte. Vor ihr schlugen Brandungswellen hoch und schien die See zu kochen. Wahrscheinlich ein Riff, vermutete er, oder die unterseeische Fortsetzung der Insel, in Jahrtausenden von Wind und Wellen abgetragen und nun eine natürliche Barriere gegen ungebetene Gäste.
Er senkte das Glas und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Um ihn herum warteten die Seeleute an ihren Kanonen, beobachteten ihn oder starrten nur auf die geschlossenen Stückpforten, bereit, auf den nächsten Befehl sofort zu reagieren.
Pelham-Martin sagte plötzlich:»Todsicher wird etwas passieren! Vielleicht ist die Spartan auf Grund gelaufen!«Er wandte den kleinen Kopf und sah Bolitho verdrießlich an.
«Das werden wir bald wissen, Sir. «Er entfernte sich ein paar
Schritte, da er nicht länger zuhören mochte. Seine eigene Zuversicht war auch nicht allzu groß.»Sir!«Carlyon hielt die Hände hinters Ohr.»Geschützfeuer,
Sir!»
Bolitho sah ihn zweifelnd an, aber der Ausdruck auf dem Gesicht des Jungen war unmißverständlich. Er war jung und noch nicht mit Dingen belastet, die über seinen Dienst hinausgingen. So hatten seine Ohren das weit entfernte Geräusch trotz des Windes eher als alle anderen wahrgenommen.
«Mr. Inch! Lassen Sie die Geschütze laden! Aber nicht eher ausrennen, als ich es befehle!»
Dann rief er Gossett zu:»Tragen Sie unseren Kurs genau ein. Die Riffe vor der entfernten Landspitze reichen weit hinaus.»
Der Master nickte.»Ich habe mitgekoppelt,[6] Sir. Wir stehen noch gut vier Meilen ab.»
«An Deck!«Die Stimme des Ausgucks kam nur schwach gegen das Getöse des Windes und das Knattern der Segel an.»Ein Schiff kommt aus der Durchfahrt!»
Bolitho verschränkte die Hände auf dem Rücken, um seine wachsende Erregung zu bändigen.»Mr. Inch! Ändern Sie Kurs um zwei Strich nach Lee! Schicken Sie die Leute an die Brassen!»
Dann ergriff er das Teleskop von Carlyon und blickte auf die Inseln. Sie schienen wie Treibgut vor dem mit Spritzern bedeckten Glas herumzutanzen, aber als sein Auge schon zu tränen begann, entdeckte er das Ende der tafelförmigen Insel, und wo noch vor kurzem nur Brandungswellen zu sehen gewesen waren, bewegte sich etwas: ein Schiff.
Er hörte Gossett rufen:»Kurs Südwest zu Süd!»
Inch starrte ihn fassungslos an.»Es ist eine Fregatte!«Ein kurzes Zucken ging über sein Gesicht, als das dumpfe Grollen von Geschützfeuer zu ihnen drang.»Bei Gott, die Franzmänner kommen tatsächlich!»
Bolitho stellte sich hinter ihn.»Schütteln Sie alle Reefs wieder aus, und setzen Sie Fock und Bramsegel!»
Er ging auf Pelham-Martins Seite hinüber, während Inch mit seinem Sprachrohr an die Querreling eilte.»Nun, Sir, wenigstens einige werden wir heute erwischen!»
Er beobachtete die Männer, die auf den Rahen auslegten, und spürte die unmittelbare Reaktion der Wanten und Stagen, als sich ein Bramsegel nach dem anderen mit Wind füllte. Der plötzliche Druck auf die Masten machte sich bis zum Kiel hinunter bemerkbar. Mit dem Wind nun fast genau von achtern, schien das Schiff sich nach vorne zu neigen, und als sich nun auch noch die große Fläche der Fock ausbauchte, meinte Bolitho, die See beiderseits des Bugs wie einen Mühlbach rauschen zu hören.
«Sie können jetzt die Kanonen ausrennen, Mr. Inch!«Er beobachtete, daß Pelham-Martin sich über die Reling beugte und zuschaute, wie die langrohrigen Zwölfpfünder quietschend in die offenen Pforten gezogen wurden. Ihre Bedienungen feuerten sich dabei gegenseitig mit Zurufen an, als wäre es ein Wettkampf.
Inch rief:»Die Fregatte hat die Durchfahrt passiert, Sir!»
Bolitho beobachtete das noch weit entfernte Schiff, dessen Silhouette sich verkürzte, als es langsam um die vorderste Landspitze herumdrehte. Bei dem jetzt nordöstlichen Wind hatte es wenig Platz zum Kreuzen und konnte leicht in Schwierigkeiten geraten, wenn ein Wendemanöver so dicht unter Land nicht klappte.
Zumindest konnte es dann in die Durchfahrt zurückgetrieben werden. Bolitho sah die Rahen wild herumschwingen und Gischt über den schnittigen Steven zusammenschlagen, als das Schiff sich wieder fing und nun einen Kurs steuerte, der auf die Hyperion zulief.
Ein schneller Blick achteraus bestätigte ihm, daß Fitzmaurice keine Anweisungen brauchte, sondern wußte, was er zu tun hatte. Die Hermes hatte bereits ihre Bramsegel gesetzt, und er sah, daß sie unter dem Druck des Windes beängstigend krängte, als sie das Kielwasser der Hyperion kreuzte. Die beiden britischen Schiffe würden wie die Backen einer Zange zuschnappen, und wenn die anderen Franzosen aus der Durchfahrt kamen, mußten sie zwischen den beiden darauf lauernden und entsprechend vorbereiteten Briten hindurch.