Als Bolitho das Kommando über sein altes, mit vierundsiebzig Kanonen bestücktes Schiff übernommen hatte, fand er Inch als Fünften und jüngsten Offizier vor. Der Dienst auf See, fern vom Land und oft auch fern von der Flotte, hatte den jungen Leutnant Sprosse um Sprosse die Karriereleiter hinaufgeführt, als ein Offizier nach dem anderen gefallen war. Als der Erste Offizier sich das
Leben nahm, hatte Bolithos Freund Herrick bereitgestanden, dessen Posten zu übernehmen; doch dann hatte Thomas Herrick im Rang eines Kapitäns das Schiff verlassen und ein eigenes Kommando bekommen. Damit hatte sich Leutnant Francis Inch — schlaksig, mit einem Pferdegesicht und immer einsatzwillig — , eine Chance geboten. Aus Gründen, die Bolitho selbst nicht richtig durchschaute, war es ihm ermöglicht worden, sie wahrzunehmen. Doch bei dem Gedanken, zum erstenmal als Stellvertreter des Kommandanten das Schiff in Fahrt zu bringen, mochte ihn sein neuer Status mit Unbehagen und nicht geringer Besorgnis erfüllen.
«Boot ahoi?«Der übliche Anruf klang von der Bordwand des Schiffes herab.
Allday legte die Hände an den Mund. »Hyperion.»
Als die Riemen gehoben waren und der Buggast das Boot an der Kette anhakte, schüttelte Bolitho den Mantel ab, preßte seinen Säbel an die Hüfte und sprang schnell zur Schanzpforte hinauf. Ihm wurde nicht einmal die Luft knapp, und er fand sogar Zeit, bewundernd daran zu denken, was gute Ernährung und regelmäßiger körperlicher Einsatz für jemanden bewirken konnten, der sich an das bewegungsarme, beengte Bordleben gewöhnt hatte.
Als sein Kopf über dem Schanzkleid auftauchte, brachen die Pfeifen in ein schrilles Trillern aus, und er sah die zackige Bewegung der Musketen, als die angetretenen Marinesoldaten präsentierten.
Inch salutierte nervös. Seine Uniform war vom Regen durchnäßt, so daß Bolitho annahm, er hätte das Achterdeck seit Tagesanbruch nicht mehr verlassen.
Der Lärm verebbte, und Inch sagte:»Willkommen an Bord, Sir.»
Bolitho lächelte.»Danke, Mr. Inch. «Er sah sich nach den zuschauenden Männern um.»Sie sind fleißig gewesen.»
Inch blickte zu der Bootsbesatzung hinunter und wollte sie schon anrufen, als Bolitho gedämpft sagte:»Nein, Mr. Inch. Das ist nicht mehr Ihre Aufgabe. «Er bemerkte, daß Inch ihn überrascht ansah.»Überlassen Sie das Ihren Untergebenen. Wenn Sie Vertrauen zu ihnen haben, werden sie auch Ihnen vertrauen.»
Er hörte hinter sich schwere Schritte auf den feuchten Planken und drehte sich um. Gossett, der Steuermann, trat auf ihn zu. Gott sei Dank diente wenigstens der schon seit einigen Jahren an Bord.
Gossett war riesig und wuchtig wie eine Tonne und besaß ein Paar der hellsten Augen, die Bolitho je gesehen hatte, obwohl sie meist in seinem gefurchten und wettergegerbten Gesicht halb verborgen blieben.
«Keine Klagen, Mr. Gossett?»
Der Steuermann schüttelte den Kopf.»Keine, Sir. Ich habe immer gesagt, daß die alte Lady fliegen kann, wenn sie erst mal den Bewuchs los ist. «Er rieb die kräftigen roten Pranken aneinander.»Und fliegen wird sie, wenn ich was zu sagen habe.»
Die versammelte Besatzung drängte sich noch auf den Gangways und dem freien Raum an Deck. Die Gesichter waren blaß im Vergleich zu Gossett und Allday.
Dies hätte der Augenblick zu einer anfeuernden Ansprache sein sollen, die Gelegenheit, diese Männer, die ihm und untereinander noch fremd waren, zu einem Hurraruf zu bringen. Er hob die Stimme, um den Wind zu übertönen.»Wir wollen weiter keine Zeit verlieren. Unsere Befehle besagen, daß wir uns unverzüglich dem Blockadegeschwader vor Lorient anschließen sollen. Wir haben ein gutausgerüstetes Schiff mit einer ehrenvollen Geschichte und einer großen Tradition, und gemeinsam werden wir unser Bestes tun, um den Feind in seinen Häfen einzuschließen oder ihn zu vernichten, wenn er so verwegen sein sollte, sich herauszuwagen.»
Bolitho beugte sich vor und stützte die Hände auf die Achterdecksreling, als das Schiff sich schwerfällig hob. Es überraschte ihn, daß einige Männer sich einander tatsächlich bei seinen abgenutzten Worten grinsend in die Rippen stießen. In wenigen Monaten würden sie das wahre Elend des Blockadedienstes kennenlernen: Schutzlos und ohne frische Lebensmittel jedes Wetter durchzustehen, während die Franzosen es sich in ihren Häfen wohl sein ließen und gelassen auf eine Lücke in der Kette britischer Schiffe warteten, durch die sie ausbrechen, hart zuschlagen und sich wieder zurückziehen konnten, ehe es zu einem Gegenschlag kam.
Gelegentlich wurde ein Schiff abgelöst, um mit neuem Proviant versorgt zu werden oder wichtige Reparaturen vornehmen zu lassen; dann wurde sein Platz von einem anderen übernommen, wie jetzt durch die Hyperion.
In forschem Ton fügte Bolitho hinzu:»Es gilt, vieles zu vollbringen, und ich erwarte von jedem, daß er sein Bestes gibt, jede Aufgabe erfolgreich erfüllt, vor die er gestellt wird. «Hier schnitt ein Teil der älteren Leute Grimassen. Sie wußten, das bedeutete Geschützexerzieren und Segeldrill unter Aufsicht eines Offiziers mit der Uhr in der Hand, bis der Kommandant zufrieden war. Bei dieser Art Wetter keine angenehme Aufgabe, besonders nicht für Männer, die noch nie zur See gefahren waren.
Bolitho ließ den Blick zur anderen Seite des Achterdecks schweifen, wo Inch und die anderen vier Leutnants in einer Reihe an der Reling standen. In den hektischen Tagen bis zur Wiederindienststellung der Hyperion und danach hatte er zuwenig Zeit gefunden, seine neuen Offiziere kennenzulernen. Die drei jüngeren erschienen durchaus willig, sie waren aber noch sehr jung und besaßen wenig Erfahrung. Ihre Uniformen strahlten vor Neuheit, und ihre Gesichter waren so rosig wie die von Midshipmen.[1] Der Zweite Offizier jedoch, ein Mann namens Stepkyne, hatte sich als Steuermannsmaat an Bord eines Ostindienfahrers bewährt und den Weg in den Dienst des Königs gefunden, als er einem schwerfälligen Versorgungsschiff zugeteilt worden war. Es mußte ihn angestrengte Arbeit und viele bittere Erfahrungen gekostet haben, sein Offizierspatent zu erwerben; als er jetzt, gelassen mit dem Schiff schwankend, auf dem Achterdeck der Hyperion stand, konnte Bolitho die scharfen Linien um seinen Mund erkennen und einen Ausdruck, der an Mißgunst grenzte, als er den jungen Inch von der Seite ansah.
Hinter den Leutnants standen die sechs Midshipmen des Schiffes, auch alle sehr jung und offensichtlich aufgeregt über die Aussicht auf eine Reise, die für die meisten ihre erste war.
Hauptmann Dawson stand bei seinen Marinesoldaten, ein Mann mit wuchtigem Kinn und ohne Lächeln. An seiner Seite Leutnant Hicks, ein wendiger, aber ausdruckslos wirkender junger Mann. Bolitho biß sich auf die Lippen. Die Marinesoldaten waren ausgezeichnet bei Vorstößen an Land oder wenn es um Hauen und Stechen im Nahkampf ging, boten jedoch nur geringe Hilfe bei der Aufgabe, ein Linienschiff unter vollen Segeln in Fahrt zu halten.
Er spürte den Wind, der ihm um die Beine wehte, und fügte knapp hinzu:»Das ist einstweilen alles. «Er nickte Inch zu.»Treffen Sie Vorbereitungen zum Auslaufen.»
Bolitho entdeckte neben der Schanzpforte Joshua Tomlin, den
Bootsmann, dessen scharfe Augen schnell die Männer in seiner Nähe musterten. Auch Tomlin gehörte zur ursprünglichen Besatzung: ein untersetzter, kräftig gebauter Mann, fast so breit wie groß und ungewöhnlich stark behaart. Wenn er lächelte, was er oft tat, zeigte er ein furchterregendes, fast irrsinniges Grinsen, da ihm die Vorderzähne vor vielen Jahren von einem herabstürzenden Block ausgeschlagen worden waren. Er war bekannt für seine Geduld und seine derbe gute Laune, selten bei Leuten in seiner Position. Aber es mußte selbst seine Duldsamkeit überfordern, bei dieser zusammengewürfelten neuen Besatzung die Ruhe zu bewahren, dachte Bolitho grimmig.
Wieder schrillten die Pfeifen, und die Decks erbebten unter stampfenden Füßen, als die Männer auf ihre Stationen rannten, angetrieben von den Tritten und Flüchen der ungeduldigen Unteroffiziere, die noch nicht einmal Zeit gefunden hatten, die Namen der Männer in ihren eigenen Gruppen zu lernen.