Hoch oben erschienen bleich die ersten Sterne, und das Schilf ringsum rauschte leise in der plötzlichen Abendbrise. Einige Augenblicke wirkte sie nach der Hitze und dem Schmutz des Tages beinahe erfrischend, doch dieser Eindruck verging schnell.
Bolitho saß zurückgelehnt und beobachtete die Sterne. Er versuchte, nicht an die Stunden und Tage zu denken, die vor ihnen lagen. Im Bug stöhnte ein Mann im Schlaf auf; und ein anderer flüsterte leidenschaftlich einen Frauennamen, um gleich darauf wieder zu verstummen.
Bolitho zog die Knie ans Kinn, die getrocknete Schlammkruste zerkratzte ihm die Haut. Er blickte auf den schlaff vor ihm liegenden Pascoe hinunter. Ob auch er träumte? Von seinem Vater, den er nie gesehen hatte? Von einer Erinnerung, die für ihn verhaßt und beschämend geworden war?
Er legte die Stirn auf die verschränkten Arme und war auf der Stelle eingeschlafen.
XI Angriff im Morgengrauen
Während des ganzen nächsten Tages ging der alptraumartige Marsch durch den Sumpf weiter, und ständig wurden ihre Qualen durch die unbarmherzige Sonne noch gesteigert. Ob sie die Boote stakten oder watend durch den zähen Schlamm zogen, war allen schon gleichgültig. Sie hatten jedes Zeitgefühl verloren und zählten auch nicht mehr, wie oft sie die Boote verließen und wieder an Bord kletterten. Ihre Körper und zerrissene Kleidung waren dick von Schmutz bedeckt, ihre Gesichter aufgequollen vor Erschöpfung.
Jetzt hatten sie im Sumpf eine offene Strecke erreicht, an der keine erkennbare Strömung die Oberfläche kräuselte. Sie war von einer dicken grünen Algenschicht bedeckt, Binsen und Schilf standen in vereinzelten Gruppen wie Geschöpfe von einem anderen Planeten.
Am späten Nachmittag, als sie die Boote über eine halb versunkene Insel aus weichem Sand schleppen mußten, ließ einer der Männer die Leine fahren und stürzte um sich schlagend und schreiend nieder. Da er völlig von Schlamm und Algen bedeckt war, konnte man zunächst nicht erkennen, was geschehen war. Ein Teil der Leute drängte sich unsicher und erschreckt um das Boot, während Bolitho und Allday den keuchenden Mann hineinhievten. Mit einem in Frischwasser getauchten Lappen säuberte Bolitho eine Stelle tief unten am Bein des Verletzten und legte eine kleine blutende Wunde frei. Er mußte auf eine Schlange getreten sein, der Biß war klar zu erkennen. Allday blieb bei dem Verletzten an Bord, während Bolitho die anderen wieder an die Schleppleinen befahl. Er wußte, daß es gegen das Schlangengift keine Hilfe gab; die Leute danebenstehen und zusehen zu lassen, wie ihr Kamerad elend starb, konnte nur schaden.
Während sie sich weiter durch den Sumpf kämpften, wurden sie von den grauenvollen Todesschreien des Mannes verfolgt; als Bo-litho sich einmal umsah, bemerkte er, daß die Matrosen ihn aus rotgeränderten Augen in schmutzbedeckten, unrasierten Gesichtern beobachteten und mehr Haß auf ihn als Mitgefühl mit ihrem Kameraden verrieten.
Barmherzigerweise brauchte das Gift nur eine Stunde, um sein
Werk zu vollenden; der leblose Körper wurde einfach über Bord gestoßen, eine grimmige Warnung für jene Boote, die dicht hinter ihnen folgten.
Die meisten konnten ihre Rationen aus Rindfleisch und hartem Schiffszwieback nicht mehr zu sich nehmen und begnügten sich mit der kärglichen Zuteilung an Trinkwasser. Bolitho hatte sie während einer kurzen Rast beobachtet. Die hastigen Bewegungen und die trüben Augen in den erschöpften Gesichtern waren ihm nicht entgangen, ebensowenig die Art, wie sie über jeden Schöpfbecher Wasser wachten, mit einem Ausdruck, der eher tierisch als menschlich war.
Doch trotz allem waren sie weitergekommen. Bolitho wußte, daß aus ihrer fügsamen Geduld Haß auf ihn geworden war, daß es nur eines geringfügigen Anlasses bedurfte, um aus dem Unternehmen eine blutige Meuterei zu machen.
Während der Nacht ließ er alle Leute schlafen und wechselte sich beim Wachen mit Allday und Shambler ab. Doch im zweiten Boot war die Wachsamkeit ungenügend. Vielleicht hatte Leutnant Lang auch seine Fähigkeiten überschätzt, die Leute unter Kontrolle zu halten.
Als Bolitho aus schwerem Schlaf erwachte, spürte er, daß Allday ihn an der Schulter rüttelte und ihm eine Pistole in die Hand drük-ken wollte.
«Was ist los?«Eine Sekunde glaubte er, er hätte verschlafen, doch als er über das Dollbord spähte, sah er, daß im Osten nur eine Andeutung von Helligkeit wahrzunehmen war und die Männer im Boot noch in ihrer verkrampften Haltung schliefen.
«Mr. Lang hat gemeldet, daß sein Wasservorrat geplündert worden ist, Captain. Das kann böse Folgen bei seinen Leuten haben, wenn sie aufwachen.»
Bolitho erhob sich taumelnd.»Behalten Sie die Pistole. «Er kletterte aus dem Boot und spürte, wie das schlammige Wasser seine Beine kühl umfing, als seine Füße bei jedem Schritt auf das andere Boot zu einsanken. Lang erwartete ihn verstört.
«Wie schlimm ist e s?»
Lang hob ratlos die Schultern.»Kaum ein Tropfen übrig. Für den Rest des Vormarsches und den Rückweg ist gerade noch ein Kanister vorhanden.»
Von einem der anderen Boote hallte eine Stimme über den Sumpf:»Es wird Zeit zum Wecken, Sir!»
Bolitho hievte sich ins Boot.»Gehen Sie sofort zu Mr. Quince und warnen Sie ihn. Dann informieren Sie auch Mr. Carlyon. «Er packte den Leutnant am Handgelenk.»Und keine Pistolen, verstanden?»
Als die Männer in dem zweiten Kutter sich aus ihrem schweren Schlaf aufrichteten, starrten sie benommen Bolitho und dann einander an, als sie ihn sagen hörten:»Während der Nacht hat sich einer über den Wasserkanister hergemacht. Zuerst hat er sich gründlich sattgetrunken und dann in seiner Gier den Rest auslaufen lassen. «Er deutete auf die schimmernde Pfütze im getrockneten Schlamm zu ihren Füßen. Nachdrücklich fügte er hinzu:»Ich nehme an, ihr wißt alle, was das bedeutet.»
Im Bug schrie eine Stimme:»Das muß Mr. Lang selbst gewesen sein. Der hat die letzte Wache gehabt!«Ein Knurren war die Antwort, als er bösartig hetzte:»Die Offiziere sorgen doch immer nur für sich!»
Bolitho stand völlig ruhig im Heck, die Hände in die Hüften gestützt. Eine plötzliche verzweifelte Wut packte ihn, weil er allein und unbewaffnet war. Doch noch stärker war er sich der Scham bewußt, die ihn überkam, als ob wirklich er dafür verantwortlich wäre.
Mit fester Stimme sagte er:»Das ist falsch. Aber ich bin nicht gekommen, um mit euch zu streiten oder um euer Verständnis zu bitten. Ihr habt euch bisher gut gehalten, besser als erwartet. Ihr habt bereits erreicht, was manche für unmöglich gehalten haben, und wenn es sein muß, werdet ihr noch Besseres leisten, selbst wenn überhaupt kein Wasser mehr da ist und ich euch mit bloßen Händen vorantreiben müßte.»
Ein tastender Sonnenstrahl fiel spielerisch auf die gestapelten Waffen, und Bolitho bemerkte, daß mehr als einer einen Blick darauf warf.
Scharf sagte er:»Wenn ihr glaubt, ihr könnt euren Durst stillen, indem ihr mich tötet, dann nur zu! Andernfalls will ich jetzt die Anker lichten und weitermachen.»
Die Stimme schrie gellend:»Hört nicht auf ihn, Jungs! Er versucht nur, seinen Leutnant zu decken!»
Bolitho stieg von der Ducht und schritt langsam auf die ihm am nächsten sitzenden Matrosen zu. Er konnte sehen, daß die anderen ihn über den Sumpf stumm beobachteten. Allday stand mit einem Fuß auf dem Dollbord, um seinem Kapitän zu helfen. Er würde zu spät kommen. Noch ehe er das andere Boot erreichte, konnte einer ein Entermesser packen und Bolitho niedermachen.
Bolitho sagte ruhig:»Ich habe schon feststellen müssen, je lauter einer schreit, desto größer ist seine Schuld. «Er blieb vor einer Ducht stehen. Sechs Leute waren jetzt hinter seinem Rücken, als er auf einen kräftigen, untersetzten Matrosen hinunterstarrte.
«Gestern mußte ich Frischwasser verwenden, um die Wunde eines Verletzten zu säubern. Um festzustellen, wo die Schlange ihn gebissen hatte.»