Er eilte die Leiter hinunter und sah seine Leute auf den Laufbrücken zu dem Neuankömmling hinüberstarren. Genau wie für ihn selber, war er ihnen mehr als nur eine Verstärkung. Die Impulsive kam aus England, und das bedeutete, daß sie für jeden etwas Besonderes darstellte: die Erinnerung an ein Dorf, eine grüne Wiese, an das Gesicht eines geliebten Menschen.
Leutnant Roth stand schon an der Einlaßpforte und musterte die angetretene Ehrenwache.
Bolitho beobachtete, wie der Anker der Impulsive ins Wasser klatschte und wie flink die Segel an den Rahen festgemacht wurden. Herrick hatte sich nicht zugetraut, selber ein Schiff zu führen. Oft genug hatte Bolitho ihm gesagt, daß er grundlos an seinen Fähigkeiten zweifle. Was er soeben an perfekter Seemannschaft gezeigt hatte, bestätigte das völlig.
Er hörte, wie Inch Leutnant Roth erzählte, daß der Kommandant, den sie gleich an Bord empfangen würden, früher einmal Erster Offizier auf der Hyperion gewesen war. Er war gespannt, ob Herrick bemerken würde, welche Veränderungen mit Inch infolge seiner größeren Verantwortung und vieler harter Arbeit vorgegangen war. Es würde ihm vielleicht wie ein kleines Wunder vorkommen. Bolitho mußte bei dem Gedanken an ihr Zusammentreffen lächeln. Aus dem Augenwinkel sah er Hauptmann Dawson seinen Säbel ziehen und die angetretenen Seesoldaten Haltung annehmen, als das Boot der Impulsive in die Kette der Rüsteisen einhakte.
Als ein Dreispitz in der Einlaßpforte auftauchte und die Bootsmannsmaatenpfeifen trillerten, trat Bolitho vor und streckte beide Hände zum Willkommensgruß aus.
Kapitän Herrick kletterte durch die Pforte und nahm seinen Hut ab. Dann ergriff er Bolithos Hände und hielt sie einige Sekunden fest. Seine Augen, die so strahlend blau und klar waren wie am ersten Tag, als sie einander begegnet waren, musterten ihn mit offensichtlicher Bewegung.
Bolitho sagte:»Es tut gut, Sie hier zu haben, Thomas. «Er nahm ihn am Arm und führte ihn zur Achterdeckstreppe.»Der Kommodore leidet noch an einer Verwundung, aber ich werde Sie sofort zu ihm bringen. «Er machte eine Pause und sah ihn wiederum an.»Wie sieht's aus in England? Konnten Sie Cheney noch sehen, bevor Sie ausliefen?»
«Ich habe Plymouth angelaufen, um Vorräte zu ergänzen, und bin auch aufs Land gefahren, um sie zu besuchen. «Herrick drehte sich um und ergriff seine Hände.»Mein Gott, wie soll ich es Ihnen sagen?»
Bolitho starrte ihn an, und es lief ihm eiskalt über den Rücken.»Was ist los? Ist etwas passiert?»
Herrick sah an ihm vorbei, und vor seinem Blick verwischte sich alles, als er noch einmal seinen Teil dieses schrecklichen Dramas durchlebte.
«Sie hatte Ihre Schwester besucht. Es sollte die letzte Reise sein, bevor das Kind geboren wurde. In der Nähe von St. Budock muß irgend etwas die Pferde erschreckt haben, denn sie gingen plötzlich durch, die Kutsche kam von der Straße ab und stürzte um. «Er machte eine Pause, aber als Bolitho nichts sagte, fuhr er fort:»Der Kutscher war sofort tot, und Ferguson, Ihr Verwalter, der mit im Wagen saß, zunächst besinnungslos. Als er wieder zu sich gekommen war, trug er Cheney zwei Meilen weit. «Er mußte heftig schlucken.»Für einen Einarmigen war das gewiß wie hundert Meilen. «Er faßte Bolithos Hände mit festem Griff.»Aber sie war tot. Ich habe den Doktor des Ortes und den Garnisonsarzt von Truro, der herübergeritten kam, gesprochen. Sie konnten nichts mehr für sie tun. «Er senkte den Blick.»Und auch nicht für das Kind.»
«Tot? «Bolitho zog die Hände zurück und trat zur Reling. Hinter ihm gingen die Seesoldaten der Ehrenwache plaudernd auf dem Weg in ihr Wohndeck vorbei, und hoch über ihm auf der Großrah saß ein Matrose und pfiff bei seiner Arbeit munter vor sich hin. Wie durch einen Nebel erkannte er Allday, der ihn von der obersten Stufe der Achterdeckstreppe beobachtete. Aus diesem Blickwinkel wirkte er kleiner, und sein Gesicht lag im Schatten. Es konnte nicht sein. Im nächsten Augenblick würde er aufwachen, dann war alles wieder wie zuvor.
Herrick rief:»Allday, sorgen Sie für Ihren Kommandanten!»
Und als Inch mit überraschtem und fragendem Gesicht auf ihn zutrat, gab er ihm einen Klapps auf die Schulter und sagte:»Melden Sie mich beim Kommodore, ob er verwundet ist oder nicht. «Er streckte den Arm aus, als Inch zu Bolitho hinübergehen wollte.»Und zwar sofort, Mr. Inch!»
Allday schritt schweigend neben Bolitho her, bis sie den Kartenraum erreicht hatten. Als Bolitho gleich am Schott in einen Stuhl sank, fragte er leise:»Was ist passiert, Käpt'n?»
«Meine Frau, Allday! Cheney…»
Doch ihren Namen auszusprechen, war zu viel. Er fiel nach vorn auf den Kartentisch und vergrub das Gesicht in den Armen, unfähig, seine Verzweiflung länger zu verbergen.
Allday stand Stockstill, überwältigt von Bolithos Kummer und seiner eigenen Unfähigkeit, ihm zu helfen.
«Ruhen Sie sich aus, Käpt'n. Ich hole Ihnen einen Drink.»
Er ging zur Tür, die Augen auf Bolithos Rücken gerichtet.»Wir werden wieder in Ordnung kommen, Käpt'n, passen Sie auf. «Dann rannte er aus dem Kartenraum, nur darauf bedacht, irgendwie zu helfen.
Wieder allein, richtete Bolitho sich vom Tisch auf und lehnte sich gegen das Schott. Dann, ganz vorsichtig, knöpfte er sein Hemd auf der Brust auf, nahm das Medaillon heraus und umschloß es fest mit der Faust.
XVI Eine Privatangelegenheit
Allday betrat vorsichtig die Kajüte und stellte die große Kaffeekanne auf den Tisch. Das frühe Licht der Morgensonne warf ein helles Muster flimmernder Reflexe auf die Decksbalken. Einen Augenblick konnte er nicht erkennen, wo Bolitho war.»Was wollen Sie?»
Er drehte sich um und sah, daß Bolitho auf der Heckbank unter einem der offenen Fenster lag. Sein Körper war gegen den schweren Rahmen gepreßt, und sein Gesicht erschien wie ein Schattenriß vor dem glitzernden Wasser unten. Sein Hemd war zerknittert und stand bis zur Taille offen. Das schwarze Haar hing ihm in die Stirn, während er teilnahmslos auf die fernen Hügel starrte.
Allday biß sich auf die Unterlippe. Es war offenbar, daß Bolitho nicht geschlafen hatte. In dem hellen Licht konnte er die Schatten unter seinen Augen sehen und die tiefe Verzweiflung seiner Züge.
Er antwortete:»Hab' Ihnen Kaffee gebracht, Käpt'n. Und Petch serviert Ihr Frühstück, sobald Sie soweit sind. «Er ging langsam um den Tisch.»Sie hätten sich ins Bett legen sollen. Sie haben nicht geschlafen, seit…»
«Lassen Sie mich allein!«In Bolithos Stimme lag weder Ärger noch Ungeduld.»Wenn Sie etwas für mich tun wollen, dann holen Sie mir Brandy.»
Allday warf einen schnellen Blick zum Tisch. Neben einem zerknüllten Brief lag ein leeres Glas. Von der Karaffe war nichts zu sehen.»Es ist unklug, Käpt'n…«Er stockte, als Bolitho den Kopf wandte.»Lassen Sie mich erst Ihr Essen holen.»
Bolitho schien ihn nicht zu hören.
«Erinnern Sie sich, was sie sagte, als wir Plymouth verließen, Allday? Sie sagte, wir sollten auf uns aufpassen. «Er preßte die Schultern gegen den Rahmen.»Doch sie starb. «Er wischte die rebellische Locke mit einer Handbewegung aus der Stirn, und All-day sah dadurch die fürchterliche Narbe über dem Auge, die sich wie ein Brandmal von seiner Haut abhob. Die Geste war ihm wie alles an Bolitho so vertraut, daß ihn Rührung überkam.
«Mrs. Bolitho hätte bestimmt nicht gewollt, daß Sie sich derart grämen, Käpt'n. «Er kam ein paar Schritte näher.»Als sie an Bord der alten Hyperion im Mittelmeer war, bewies sie mehr Mut als mancher unserer Männer. Nie habe ich sie klagen hören, wenn es einmal schlecht um uns stand. Sie wäre sehr unglücklich, Sie so niedergeschlagen zu sehen. Und dann denken Sie an die Zeit in Plymouth, als wir das Schiff ausrüsteten. Das waren schöne Tage. «Allday stützte die Hände auf den Tisch, und seine Worten wurden plötzlich flehend.»Sie müssen versuchen, sich an die guten Zeiten zu erinnern, Käpt'n. Ihr zuliebe, aber auch in Ihrem eigenen Interesse.»