Bolitho strich sich mit der Hand über die Stirn. Die Strapazen der vergangenen Tage forderten ihren Preis, und er mußte sich sorgfältig jedes Wort überlegen.
«Aber warum hast du die Identität dieses anderen Mannes angenommen?«Er spürte, wie ihm der Schweiß über die Brust rann.»Du mußtest doch wissen, daß du früher oder später wieder auf ein Schiff des Königs kommen würdest.»
Hugh nickte. Die Geste war gleichzeitig vertraut und dennoch fremd.
«Stimmt. Aber ich hatte es satt zu fliehen, Dick. Dauernd einen anderen Namen anzunehmen und immer über die Schulter zu blik-ken. Wo könnte ich mich besser verbergen als auf einem Schiff des Königs?«Er lächelte erschöpft.»Aber anscheinend habe ich mich getäuscht.»
An Deck ertönte eine Glocke, und Füße scharrten um das Skylight. Jeden Augenblick konnte jemand eintreten.
Bolitho sagte schroff:»Du hättest doch wissen müssen, daß dir jemand aus der Vergangenheit begegnen würde.»
«Ich suchte eine vertraute Umgebung, wo ich mich verstecken und warten konnte, bis das Schiff England erreichte. «Er nickte schwermütig.»Ich wollte nur noch einmal nach Hause. Sonst war mir nichts mehr wichtig. «Plötzlich stand er auf und stellte das Glas weg.»Das Ganze tut mir mehr leid, als ich sagen kann. Ich weiß, daß du deine Pflicht tun mußt. Das Glück hat mich verlassen. Ich kann dir keinen Vorwurf machen, wenn du mich jetzt bis zu meinem Prozeß in Eisen legen läßt.»
Er wich einen Schritt zurück, als jemand an die Tür klopfte.
Bolitho spürte den Blick seines Bruder, als er:»Herein!«rief.
Midshipman Pascoe trat in die Kabine, ein Teleskop unter dem Arm.»Mr. Roths Respekt, Sir, und er bittet um Erlaubnis für ein zweites Reff. Der Wind frischt von Nordost auf, Sir.»
Bolitho wendete sich ab. Die Stimme des Jungen hallte in seinem Kopf wider wie ein anderer Teil seines Traums.
«Sehr gut, Mr. Pascoe. Ich komme sofort selbst. «Er hielt Pascoe zurück, als der sich wieder zur Tür wendete.»Dies ist Mr. Selby, Steuermannsmaat. «Er sah seinen Bruder unbewegt an.»Mr. Pas-coe hat sich bei unserem jüngsten Unternehmen in hohem Maß ausgezeichnet.»
Als die Tür sich hinter dem Midshipman geschlossen hatte, fügte er hinzu:»Dieser Junge hat in seinem Leben mehr erdulden müssen, als du ahnst. Sein Vater hat Schande über ihn gebracht, und jetzt sucht er bei mir Stütze und Vertrauen, und ich bin stolz, daß ich ihm beides bieten kann.»
«Das verstehe ich nicht.»
«Ich will den Jungen nicht völlig verstören, indem ich den Mann festsetze, den er für tot hält. Dessen Namen neben dem meines Vaters in der Kirche in Falmouth steht. «Er sah seinen Bruder wanken, konnte aber seine Worte nicht zurückhalten.»Er ist quer durch ganz Cornwall gewandert, allein und ohne Hilfe, nur um diesen Namen zu lesen. Deinen Namen.»
Hughs Stimme war heiser.»Das wußte ich nicht. «Er sah auf, sein Blick war plötzlich verzweifelt.»Und seine Mutter?»
«Ist tot. Sie mußte sich sogar irgendeinem verdammten Grundbesitzer hingeben, um ihren Sohn ernähren und kleiden zu können.»
«Das habe ich wirklich nicht gewußt. «In seiner Stimme lag keine Kraft mehr.»Du mußt es mir glauben.»
Bolitho fuhr herum, seine Augen funkelten.»Es ist mir gleichgültig, was du wußtest oder nicht, verstehst du? Ich bin der Kommandant dieses Schiffes, und du bist Mr. Selby, Steuermannsmaat der
Backbordwache!«Er sah, daß sein Bruder unter der Sonnenbräune blaß wurde.»Wenn du dir eingebildet hast, du könntest deiner Vergangenheit entfliehen, dann hast du dich geirrt. Der Mann, der die Fregatte Spartan befehligt, war früher dein Gefangener. Mein Zweiter Offizier und mehrere Leute der Besatzung stammen auch aus Cornwall. «Er schüttelte den Kopf.»Du bist überall von deiner Vergangenheit umgeben, genau wie ich.»
«Danke, daß du mir die Chance gibst, mich…«Er verstummte.
Bolitho trat an die Heckfenster und blickte starr auf die langsam segelnde Hermes hinaus.
«Ich habe gar keine Wahl. Wenn wir beide England heil erreichen, will ich sehen, was getan werden kann, aber ich verspreche nichts. Denk daran. «Er machte eine Handbewegung zur Tür.»Gehe an deinen Dienst und melde dich beim Steuermann. «In der spiegelnden Scheibe des nächsten Fensters sah er die gebeugte Gestalt seines Bruders. Ruhig fügte er hinzu:»Und wenn du dem Jungen gegenüber auch nur die geringste Andeutung machen solltest, sorge ich persönlich dafür, daß du gehängt wirst.»
Die Tür schloß sich, und Bolitho ließ sich schwer in einen Sessel fallen. Wie war das nur geschehen? Ihre Mission konnte noch viele Monate dauern, sogar Jahre. Es war ebenso unerträglich wie unfair.
Die Tür öffnete sich wieder, und Inch fragte besorgt:»Hat Mr. Pascoe Ihnen die Bitte um Erlaubnis, ein zweites Reff zu stecken, vorgetragen, Sir?»
Bolitho stand auf. Er spürte, daß ihm Arme und Beine zitterten, trotz seiner angestrengten Bemühungen, es zu unterdrücken.
«Ja, danke. Ich komme hinauf.»
Inch ging neben ihm zum Achterdeck.»Hat Mr. Selby Ihnen brauchbare Informationen geben können, Sir?»
Bolitho starrte ihn überrascht und verständnislos an.»Informationen? Was für Informationen?»
«Verzeihung, Sir. Ich dachte nur. «Unter Bolithos scharfem Blick verstummte er.
«Ach so. Ich verstehe. «Bolitho ging nach Luv und blickte zu den prall stehenden Segeln auf.»Nur sehr wenige.»
Als die Pfeifen schrillten und die neue Wache aufenterte, stand Bolitho immer noch ohne etwas zu sehen, und spielte mit dem kleinen Medaillon unter seinem Hemd.
Als sich die Dunkelheit über das Schiff senkte und die kleinen Hecklaternen sich wie Glühwürmchen im bewegten Wasser spiegelten, stand er weiterhin an derselben Stelle und starrte mit umwölkten Augen in die Finsternis und noch weit über sie hinaus.
Erst als Gossett mit schweren Schritten und einer starken Rumfahne an Deck kam, um nach dem Kompaß zu sehen und mit den Rudergängern zu sprechen, schien sich der Bann zu lösen. Wortlos ging Bolitho an allen vorbei und zog sich in seine Kajüte zurück.
Gossett blickte ihm nach und rieb sich in plötzlich aufkommendem Unbehagen das kräftige Kinn. Dann sah er zu den gerefften Marssegeln hinauf und klopfte mit einem dicken Finger gegen das Stundenglas.
Der neue Tag würde die Erinnerung an den Kampf vertreiben, dachte er. Es gab kaum etwas, das ein Wechsel von Wind und Wetter nicht ändern konnte.
XIII Rückkehr der Spartan
Am Mittag des folgenden Tages stand das erschöpfte Geschwader einhundertundzwanzig Meilen östlich von Las Mercedes und segelte — außer Sichtweite der Küste — mit starker Schlagseite hart an einem frischen Nordostwind anliegend. Der Himmel war wolkenlos und die Hitze — trotz des Windes — kaum zu ertragen, so daß die Männer, die nicht gerade eine Arbeit zu erledigen hatten, unter Deck gingen oder sonstwo einen schattigen Platz zum Ausruhen suchten.
Bolitho trat zur Leiter, die zur Schanz hinaufführte, kletterte ein paar Stufen hoch und beobachtete die Hermes, die sich etwa zwei Kabellängen hinter ihnen vorwärts wälzte. Sie hatte ihre Rahen so hart angebraßt, wie es überhaupt ging, und bei dem von Backbord vorn einfallenden Wind standen alle Segel voll und drückten das Schiff so stark auf die Steuerbordseite, daß die See fast über ihre Bordwand schlug.
Er hatte gerade die neu gewonnenen Seeleute begrüßt und war ermüdet und entmutigt nach achtern gekommen. Während er zu ihnen sprach, hatte er versucht, ihre Reaktion auf seine Worte herauszuspüren, irgend etwas wie einen Funken der Begeisterung oder der Ablehnung. Wenn überhaupt etwas, war es eher das letztere gewesen, was er spürte. Die erste Welle der Freude über ihre Errettung aus ungerechter Einkerkerung hatte sich in Ungewißheit, wenn nicht gar Furcht verwandelt. Ihnen stand jetzt der Dienst auf einem Schiff des Königs bevor, vielleicht für die Dauer von Jahren, und mancher von ihnen würde vielleicht nie wieder im Leben etwas anderes kennenlernen.