Die Annehmlichkeiten bequemer Unterkünfte und maßvollen Dienstes, verbunden mit guter Bezahlung und der Aussicht, am Ende jeder Reise zu den Lieben daheim zurückzukehren, war nun dahin. Ihr Groll stieß jedoch bei der Besatzung der Hyperion auf wenig Mitgefühl, denn die allgemeine Ansicht in der Navy und beim durchschnittlichen Seemann war: Warum sollen andere es besser haben als wir?
Bolitho aber bedrückte jede Art von Verstimmung, und so hatte er sich bemüht, die Leute zu beruhigen und ihre Vorurteile nach Möglichkeit zu zerstreuen. Daß ihm das mißlungen war, hinterließ bei ihm ein Gefühl der Müdigkeit und Verstimmung, obwohl er wußte, daß er durch seine persönlichen Probleme vielleicht daran gehindert gewesen war, die letzten Register seiner Überzeugungskraft zu ziehen.
Er wandte sich um und beobachtete die Midshipmen, die sich auf der Leeseite des Achterdecks versammelt hatten und mit mehr oder weniger großer Aufmerksamkeit dabei waren, als Gossett ihnen in der täglichen Unterrichtsstunde die Geheimnisse und Vorzüge des Sextanten zu erklären versuchte.
«Kommen Sie vor, Mr. Pascoe!«Die Stimme des Masters[2] klang rauh und leicht gereizt. Sicher dachte er schon an sein Mittagessen in der kühlen Offiziersmesse und an ein Gläschen hinterher.»Zeigen Sie uns, wie Sie damit umgehen.»
Pascoe nahm den in der Sonne glitzernden Sextanten und schaute ihn nachdenklich an.
Gossett seufzte.»Verlorene Zeit!«Er winkte mit einer seiner großen Hände.»Mr. Selby, kommen Sie nach achtern und zeigen Sie es dem jungen Herrn, ich bin total fertig!»
Bolitho faßte das Holzgeländer der Leiter unbewußt fester, als er sah, wie sein Bruder das Deck überquerte und dem Jungen den
Sextanten abnahm. Er war zu weit weg, um hören zu können, was er sagte, doch aus der aufmerksamen Miene Pascoes und seinem wiederholten Kopfnicken entnahm er, daß ihm die ruhig gegebenen Erklärungen eingingen.
Leutnant Stepkyne hatte die Wache und war der Unterrichtsstunde mit offenkundiger Ungeduld gefolgt.»Halten Sie sich damit nicht so lange auf, Mr. Selby!«Sein rauher Ton bewirkte, daß der Junge ihn beinahe haßerfüllt ansah.»Der Unterricht an Bord ist allgemein. Wir geben hier keine Privatstunden!»
«Aye, aye, Sir. «Hugh schaute nicht auf.»Tut mir leid, Sir.»
Bolitho blickte sich nach dem Master um, aber Gossett war schon in Richtung Messe verschwunden.
Stepkyne schlenderte wie zufällig zu der Gruppe der zuschauenden Midshipmen hinüber.»Falls Sie überhaupt etwas davon verstehen. «Er lehnte sich zurück und musterte den Steuermannsmaaten Selby, wie ein Bauer auf dem Markt ein Stück Vieh mustert.
Pascoe sagte schnell:»Er hat es mir erklärt, Sir. Wie ein Offizier damit umgehen muß.»
Stepkyne wandte sich zu ihm um und schaute ihn überlegen an.»So, hat er das getan?«Er lehnte sich wieder zurück» Wie ein Offizier damit umgeht? Woher — in Gottes Namen — wollen Sie das wissen, Mr. Selby?»
Bolitho sah die Midshipmen Blicke tauschen. Sie waren zu jung, um Stepkynes Bosheit ganz zu verstehen. Doch sie schämten sich seinetwegen, und das war schlimmer.
Aber Bolitho ging es nur um seinen Bruder. Er bemerkte ein kurzes Aufblitzen von Zorn in seinen Augen, ein trotziges Heben seines Kinns, aber dann antwortete er ruhig:»Sie haben völlig recht, Sir, davon verstehe ich nichts.»
Stepkynes Ärger verwandelte sich in Sarkasmus.»Dann bin ich ja beruhigt. Wir können doch nicht zulassen, daß unsere Leute ihre Stellung vergessen, nicht wahr?»
Bolitho trat aus dem Schatten hervor, seine Beine trugen ihn einfach vorwärts, bevor er wußte, was er tat.
«Mr. Stepkyne, auch ich wäre beruhigt, wenn Sie sich an Ihre Aufgaben hielten. Die Unterrichtsstunde ist beendet!»
Stepkyne schluckte heftig.»Ich wollte nur sichergehen, daß sie ihre Zeit nicht verschwenden, Sir.»
Bolitho sah ihn kühl an.»Mir scheint es eher, als verschwendeten Sie Ihre Zeit, um sich einen Scherz zu erlauben. In Zukunft wüßte ich es gern, wenn Sie Zeit übrig und nichts Besseres zu tun haben. Bestimmt kann ich Ihre Fähigkeiten dann für dankbarere Aufgaben nutzen.»
Er drehte sich um und ging zur Hüttenleiter zurück; bei jedem Schritt fühlte er, wie sein Herz heftig schlug. In all den Jahren auf See hatte er — soweit er sich erinnerte — noch nie einen Offizier vor seinen Untergebenen abgekanzelt. Er verachtete jene, die das regelmäßig taten, ebenso wie er ihnen mißtraute. Aber Stepkyne war ein Grobian und verstand — wie die meisten dieses Typs — nur den gleichen Ton. Trotzdem fühlte er sich in seiner Rolle unbehaglich und war wie die Midshipmen eher beschämt als befriedigt.
Er begann, auf der Luvseite auf und ab zu marschieren, ohne auf die Sonnenhitze oder die Blicke der Wachhabenden zu achten. Mit dem Versuch, seinem Bruder zu helfen, mochte er gerade das Gegenteil erreicht haben. Wenn Stepkyne sich von seiner Überraschung und seinem Zorn erholt hatte, würde er nach einer Erklärung für das sonderbare Verhalten seines Kommandanten suchen, und dann.
Bolitho blieb plötzlich stehen und schaute nach oben, von wo der Ausguck herunterrief:»An Deck! Segel voraus in Luv!»
Er griff sich ein Teleskop und kletterte in die Besanwanten. Einen Augenblick dachte er, der Ausguck habe die kleine Korvette Dasher für ein fremdes Schiff angesehen, aber ein schneller Rundblick belehrte ihn eines besseren. Querab an Backbord und weit weg, die Bramsegel kaum über dem diesigen Horizont, sah er die Korvette auf ihrem befohlenen Platz.
Er wartete, bis die Hyperion aus einem langen Wellental auftauchte, und richtete sein Glas dann über den Bug nach vorn. Durch die eigene Takelage hindurch und über das farbenprächtige Heck der Telamon an der Spitze entdeckte er einen schwachen Schatten unter dem hellen Himmel. Das mußte ein auf sie zulaufendes Schiff sein.
Es kam platt vor dem Wind und unter allen Segeln, die es besaß, auf sie zu und gewann unheimlich schnell an Gestalt.
«An Deck! Es ist eine Fregatte, eine englische, dem Aussehen nach!»
Bolitho kletterte aufs Achterdeck hinunter und übergab das Teleskop dem Midshipman der Wache.
Inch kam — noch kauend — aus der Messe hoch.
Bolitho befahl kurz:»Rufen Sie >Alle Mann<, Mr. Inch, und treffen Sie Vorbereitungen zum Segelbergen. Die Fregatte hält genau auf uns zu und hat es offenbar eilig, uns etwas mitzuteilen.»
Er hörte die Bootsmannsmaatenpfeifen durch die Decks zwitschern und unmittelbar darauf das Getrappel von Füßen. Aus Niedergängen und Luken strömten die Matrosen hervor, die Augen in der plötzlichen Helle zugekniffen, und stürzten auf ihre Stationen.
Midshipman Carlyon stand — sich seiner Würde als Verantwortlicher für den Signalverkehr bewußt — mit seinen Signalgasten an den Leinen, während ein erfahrener Unteroffizier mit einem Fernglas im Besanwant hing, die Beine um die Webeleinen geschlungen und so die heftigen Bewegungen des Schiffes ausgleichend.
Bolitho nahm das Glas noch einmal vors Auge und musterte die sich schnell nähernde Fregatte, die gischtübersprüht Anstalten zum In-den-Wind-Schießen machte, während an ihrer Rah schon die Signalflaggen emporstiegen.
Ruhig sagte er:»Kapitän Farquhar ist also zum Geschwader zurückgekehrt.»
Inch wollte gerade etwas dazu äußern, als Carlyon rief: «Spartan an Telamon: Habe dringende Nachrichten für den Kommodore.»
Er sprang förmlich herum, als Inch bellte:»Passen Sie gefälligst auf das Flaggschiff auf, verdammt noch mal!»
«P-Pardon, Sir!«Carlyon schwenkte sein Glas herum auf die Te-lamon, von der ebenfalls Flaggen im blendenden Sonnenlicht auswehten. Er stotterte:»Befehl an alle: Beidrehen!»
Bolitho nickte nur kurz.»Machen Sie das, Mr. Inch, oder die Hermes kommt uns zuvor.»
Er ging durch die auseinanderspritzenden Reihen der Matrosen und Seesoldaten zur Reling, um das Manöver der Spartan zu beobachten. Farquhar halste, bevor noch das >Verstanden<-Signal auf der Telamon niedergeholt war.