Noch nie in seinem Leben war es wahrscheinlich so darauf angekommen. Aber jetzt, in diesem Augenblick, da die kleine Nisus Segel setzte und die Bucht hinter sich ließ, sah er nichts als Schande voraus und — noch schlimmer — die Verachtung jener, denen er bisher nachgeeifert hatte.
Inch fragte:»Sind Sie soweit, Sir?»
Bolitho warf einen Blick über die Landungsbrücke und sah Far-quhar, der mit seinem Ersten Offizier sprach, während sie auf ihr Boot warteten. Sein Bruder stand etwas abseits, die Arme verschränkt, den Blick auf die weit entfernte Fregatte gerichtet, die unruhig an ihrer Ankertrosse dümpelte. Dann bemerkte Hugh, daß Bolitho ihn beobachtete, und ging ihm langsam entgegen.
Bolitho wartete, bis Inch und Gossett außer Hörweite waren, und sagte dann wütend:»Du Narr! Beinahe hättest du alles verdorben!»
«Er hat mich geärgert. Wenn er wüßte, wer ich bin, würde dieser Narr sein Schiff lieber scheitern lassen, als mir das Ruder zu übergeben. «Er lächelte traurig.»Du wirst dich um den Jungen kümmern, wenn mir etwas zustößt, nicht wahr?»
Bolitho sah ihn einen Augenblick forschend an.»Du hast es gewußt?»
Er hörte Farquhar schreien:»Bringen Sie das Boot endlich längs-seit, verdammt noch mal!«Plötzlich drängte die Zeit, und Bolitho mußte an sich halten, daß er nicht den Arm seines Bruders drückte.»Paß auf dich auf!»
Dann drehte er sich um und ging zu den anderen zurück.
Inch sagte fröhlich:»Der arme alte Selby! Immer von einem Schiff auf das nächste!»
«Konzentrieren Sie sich lieber darauf, den Kommodore an Bord zu empfangen, Mr. Inch!»
Bolitho drehte ihm den Rücken zu und beobachtete das näherkommende Boot. So sah er nicht Inchs Verwirrung und Gossetts schadenfrohes Grinsen. Sein kurz aufflammender Zorn war nur ein Deckmantel für seine Unsicherheit und für die Tatsache, daß er sich um seinen Bruder sorgte, der vielleicht über ihn und alle ihm bevorstehenden Gefahren lachte. So war es immer zwischen ihnen beiden gewesen. Nicht einmal die Drohung mit Gefängnis und dem Strick für seinen Verrat hatte daran etwas geändert.
Allday stand im Boot und nahm seinen Hut ab, als die Offiziere hineinkletterten.
«Wenn Sie uns an Bord abgesetzt haben, fahren Sie bitte gleich zurück, um den Kommodore abzuholen.»
Allday nickte.»Aye, aye, Käpt'n. «Er gab dem Bugmann ein Zeichen.»Absetzen! — Riemen bei!«Er studierte Bolithos Hinterkopf, als könne er dort dessen Stimmung ablesen.»Rudert an! — Zugleich!»
Bolitho saß steif im Heck und blickte starr auf die dunkle Silhouette der oberen Rahen seiner Hyperion. Er hatte die Blicke bemerkt, die sich die Ruderer bei seinen Anweisungen zugeworfen hatten — wie Vertrauenspersonen, denen eine ungeheure Information zuteil wurde. Wie sahen diese Männer eigentlich ihre Vorgesetzten? fragte er sich. Was ging hinter den verschlossenen Gesichtern beim Vollzug einer Prügelstrafe vor, oder wenn ein Mann zu ihm in seine bequeme Kajüte kam, in diese Welt, die so fern und unberührt war von der Überfüllung in den unteren Decks? Und in der Schlacht, gab es da ein Gefühl menschlichen Verbundenseins und Mitempfindens zu ihm, den sie nur als schemenhafte Gestalt auf dem Achterdeck sahen?
Er rief sich in Erinnerung, wie diese gleichen Leute reagiert hatten, als Pelham-Martin seine Flagge auf der Hyperion niederholen ließ. Da waren sie empört und gekränkt gewesen, als ob sie selber oder ihr Schiff dadurch mißachtet würden. Jetzt wußten sie, daß die Flagge zurückkam, und freuten sich. Was mochten sie über den Mann unter dieser Kommandoflagge denken? Einen Mann, der so in seinen inneren Zweifeln und persönlichen Sorgen befangen war, daß er beim nächsten Rückschlag vielleicht zusammenbrach.
Bolitho blickte auf und sah die steile Bordwand über sich, die scharlachroten Röcke der Seesoldaten an der Einlaßpforte, die im Sonnenlicht blitzenden Bootsmannsmaatenpfeifen.
Als Allday ans Fallreep heransteuerte, erinnerte er sich plötzlich an das, was Hugh gesagt hatte: >Sie werden dir überall hin folgen.< Aber Männer, die folgen, müssen richtig geführt werden. Es hatte keinen Zweck, Mitleid mit Pelham-Martin zu haben, weil die Aufgabe über seine Kräfte ging. Diese Männer brauchten Führung. Er runzelte die Stirn. Nein, sie hatten einen Anspruch darauf.
Er kletterte das Fallreep hoch und dachte immer noch an PelhamMartin, selbst als er die Ehrenbezeigungen erwiderte und sich seinen Weg nach achtern zur Hütte bahnte.
«Käpt'n, Sir!»
Bolitho öffnete die Augen und starrte noch benommen auf die Karte, die unter seinem Arm lag. Die Hängelampe schaukelte in dem geschlossenen Kartenraum und warf geisterhafte Schatten hierhin und dorthin. Bolitho spürte sofort, daß die Bewegungen des Schiffes zugenommen hatten.
Allday stand neben dem Tisch und drückte eine riesige Kaffeekanne an sich.
«Wieviel Uhr haben wir?»
«Sieben Glas, Käpt'n. «Allday nahm einen Becher vom Bord und goß, vorsichtig die Schiffsbewegungen ausbalancierend, schwarzen Kaffee ein.
Drei Uhr früh. Bolitho lehnte sich im Stuhl zurück und rieb sich die Augen. Er war fast ununterbrochen an Deck gewesen, seit die Schiffe die Bucht von St. Kruis verlassen und den Kampf mit einem ständig zunehmenden Wind aufgenommen hatten. Dann hatte er für zwei Stunden versucht, etwas zu ruhen, um seine überanstrengten Nerven bis zum ersten Tageslicht wieder etwas zu beruhigen. Er ächzte. Die Mittelwache dauerte noch eine knappe Stunde.
Allday trat etwas zurück und sah zu, wie er trank.»Meldung von Mr. Inch: Der Wind frischt auf.»
«Weiterhin von Nordosten?»
«Aye. «Er goß mehr Kaffee in den Becher.
«Schön, dafür sollten wir dankbar sein. «Wenn der Wind jetzt räumte,[4] konnten sie weiter von den noch verborgenen Inseln abhalten. Ohne freien Spielraum mochten sie sonst vom Feind überrascht werden. Und wenn der Wind schralte[5] oder gar ganz herumsprang, würden sie beim ersten Tageslicht gesichtet werden; dann konnte Lequiller ausreißen oder die Schlacht nach seinen eigenen Bedingungen und mit Übermacht annehmen.
Er setzte den Becher heftig auf den Tisch. Falls… wenn… Er fing schon an, wie der Kommodore zu denken.
Allday half ihm in seinen Mantel.»Soll ich den Kommodore wecken, Käpt'n?»
«Nein. «Er verließ den Kartenraum und stolperte fast über den Kajütsteward, der zusammengekauert auf dem Gang hockte und schlief.
Er sagte:»Lassen Sie ihm den restlichen Kaffee. «Er warf einen Blick auf die geschlossene Tür der Kajüte, vor der der Ehrenposten im schwachen Laternenlicht wie ein Spielzeugsoldat hin und herschwankte.»Er kann ihn nachher dem Kommodore anbieten. «Er schläft sicher nicht, dachte er. Wahrscheinlich liegt er nur da, starrt auf die Decksbalken über sich und lauscht aufjeden Ton im Schiff.
Das Achterdeck lag in völliger Dunkelheit. Die Geräusche von Wind und Wellen sagten ihm augenblicklich, daß die Kräfte dahinter zunahmen.
Inch tastete sich zu ihm.»Wir müssen wieder Segel kürzen, Sir.»
Bolitho ging das schrägliegende Deck hoch und hielt eine Hand über das Kompaßgehäuse. Kurs Süd zu West. Er erinnerte sich ihrer verzweifelten Bemühungen, seit sie St. Kruis verlassen hatten. Immer im Kampf mit dem Wind, der sich im Kreise drehte, und die meiste Zeit mit beiden Wachen an Deck. Nun segelten sie also wieder nach Süden, und die Inseln lagen irgendwo an Steuerbord voraus. Da sie den Wind jetzt von achtern hatten, würden sie gegenüber einem Gegner, der aus seinem Versteck herauskam, den Vorteil der Luvposition haben. Es mußte aber alles verderben, wenn sie über ihre vorgesehene Position hinaussegelten.
«Schön, Mr. Inch, lassen Sie ein weiteres Reef einstecken. «Er fragte sich, ob die Spartan jetzt wohl schon vor der trügerischen Durchfahrt stand. Ob sein Bruder sich nach so langer Zeit noch erinnern konnte. Doch er besann sich, als Inch meldete:»Die Hermes ist noch auf ihrem Platz, Sir. Wir haben sie bei sechs Glasen noch dichtauf hinter uns gesehen. «Er mußte schreien, um sich bei dem Wind verständlich zu machen. Sein mit Wasserspritzern bedecktes Gesicht glitzerte im schwachen Kompaßlicht.