»Haben Sie denn sonst nichts gespürt?« erkundigte sich Hewlitt, bevor jemand anders etwas sagen konnte. »Ich meine, haben Sie sich irgendwie besser gefühlt oder gesünder oder zumindest irgendwie anders? Oder haben Sie gar keine Veränderungen wahrgenommen?«
O'Mara warf Hewlitt einen mürrischen Blick zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder Lioren zuwandte und knurrte: »Das wären auch meine Fragen gewesen. Also, wie sieht's damit aus, Padre?«
»Ich kann mich an keine ungewöhnlichen Gefühle erinnern«, antwortete Lioren. »Das Gefühl, das ich jetzt in unmittelbarer Nähe zu einem Exwirt der Virenkreatur empfinde, wurde damals vielleicht durch meine Erleichterung und Freude über Morredeths Heilung in den Hintergrund gedrängt. Was meine Gesundheit angeht, so ist diese sowieso ganz hervorragend, und deshalb kann ich mich körperlich kaum besser fühlen.Was allerdings meinen seelischen Gesundheitszustand betrifft, so bin ich mir da weniger sicher, und anscheinend sind die Heilfähigkeiten unseres Leibarztes auf diesem Gebiet stark begrenzt.«
Hewlitt fragte sich, welches psychologische Problem ein solch integres und selbstloses Wesen, dessen Beliebtheitsgrad bei den Patienten und dem Krankenhauspersonal nur noch durch Prilicla übertroffen wurde, beschäftigen könnte. Noch während er überlegte, ob er sich trauen sollte, diese Frage zu stellen, wurde die Antwort darauf von dem Chefpsychologen höchstpersönlich geliefert.
»Padre, Sie sind von jeder Schuld am Tod der Cromsaggi freigesprochen worden, und ich hoffe, daß Ihr Unterbewußtsein dieses Urteil endlich mal akzeptiert. Aber wo wir gerade bei diesem Thema sind: Auf Cromsag sind Sie ernsthaft verletzt worden und mußten von einem Schiffsarzt operiert werden, der mit der tarlanischen Physiologie nicht sonderlich gut vertraut war, so daß Sie einige kleine Narben zurückbehalten haben. Sind die noch sichtbar?«
»Das weiß ich nicht, weil ich mir meinen Körper nur sehr selten genauer ansehe. Narzißmus ist für uns Tarlaner ein Fremdwort. Soll ich meinen Mantel ablegen?«
»Ja, das wäre wohl angebracht«, forderte ihn O'Mara auf.
Zwei von Liorens mittleren Händen tauchten aus Schlitzen seines langen, blauen Mantels hervor und machten sich daran, die Verschlüsse zu öffnen.
Hewlitt war das etwas peinlich. Er blickte hilfesuchend zu Prilicla, der direkt neben ihm schwebte, und flüsterte zu ihm hoch: »Soll ich mich umdrehen?«
»Nein, Freund Hewlitt«, beruhigte ihn der Empath. »Tarlaner können mit dem terrestrischen Nacktheitstabu überhaupt nichts anfangen, und der blaue Mantel, den er trägt, ist zum einen ein Symbol für seinen Beruf und seine akademische Würde, und zum anderen verbergen sich darin etliche Innentaschen. Und jetzt sehen Sie genau hin. Freund Lioren hat sich mehrmals umgedreht, und ich habe keine einzige Narbe entdeckenkönnen.«
»Weil es offensichtlich keine mehr gibt«, stellte Lioren verdutzt fest, wobei sich seine vier Augen nach unten bogen und an ihren Stielen wie reife Früchte baumelten. »Die Operation ist damals trotz der gebotenen Eile sehr ordentlich durchgeführt worden, so daß die Narben kaum zu sehen waren, aber jetzt sind sie sogar völlig verschwunden.«
O'Mara nickte. »Augenscheinlich hat unser kleines Virus seine übliche Visitenkarte hinterlassen: einen perfekt geheilten und gesunden Körper. Das ist genau die Bestätigung, die wir brauchen, um zu wissen, daß Sie ein Wirt gewesen sind, und vielleicht sind Sie es sogar immer noch.« Der Major blickte zu Prilicla hinauf. »Na, was ist? Ist unser kleiner Hausarzt noch in seiner Praxis oder schon auf dem Weg zu einem anderen Patienten?«
»Offenbar ist er nicht mehr da«, antwortete der Empath. »Vom Padre geht nur eine Quelle emotionaler Ausstrahlungen aus, und diese stammt von ihm selbst. Falls eine andere Intelligenz anwesend wäre, würde ich sie bei dieser kurzen Entfernung auf jeden Fall bemerken.«
»Sind Sie sich wirklich sicher?« hakte O'Mara nach. »Demnach gehen Sie also davon aus, daß Sie dieses Wesen immer entdecken würden, ungeachtet der Spezies seines Wirtskörpers, richtig?«
»Ja, Freund O'Mara. Ich käme gar nicht darum herum. Auf emotionaler Ebene könnte es seine Gegenwart vor mir niemals verbergen, genausowenig wie es mir entgehen würde, wenn Ihnen ein zweiter Kopf wüchse …«
O'Mara lächelte tatsächlich zum ersten Mal. »In diesem medizinischen Irrenhaus könnte das durchaus von Vorteil sein.«
»…bei einer Person wie Freund Conway, der gleichzeitig über den Verstand von acht oder neun verschiedenen Wesen zu verfügen glaubt, bin ich mir allerdings weniger sicher«, fuhr der Empath fort. »Dadurch wird die emotionale Ausstrahlung ziemlich verworren, so daß ihr ein gewisser Zweifel anhaftet.«
»Diagnostiker Conway ist auf gar keinen Fall ein ehemaliger Wirt«,mischte sich Hewlitt ein.
»Dem kann ich nur voll und ganz zustimmen«, pflichtete ihm Lioren bei.
»Da bin ich aber heilfroh!« seufzte Murchison erleichtert und lachte. »Mit einem mehrfach geistig abwesenden Mann verheiratet zu sein ist schon schlimm genug.«
Der Chefpsychologe klopfte einmal ungeduldig mit der Hand auf den Schreibtisch. »Wir schweifen vom Thema ab. Aus naheliegenden Gründen müssen wir das Aufspüren des gegenwärtigen Aufenthaltsortes dieser Kreatur als eine Angelegenheit von höchster Dringlichkeit behandeln… «
So naheliegend sind die Gründe für mich gar nicht, dachte Hewlitt, doch hatte er kaum eine Chance, Fragen zu stellen.
»… für diese Suche steht uns – entschuldigen Sie bitte den Ausdruck, Prilicla – ein empathischer Spürhund zur Verfügung, der ihre Gegenwart feststellen kann, wenn sich der Wirtskörper in Hörweite befindet und zu keinem Diagnostiker gehört. Außerdem haben wir zwei ehemalige Wirte, die diejenigen Wesen identifizieren können, die bereits in Besitz genommen worden sind, wenn sie sich in Sichtweite befinden. In beiden Fällen muß die exakte Entfernung noch berechnet werden. Alle ehemaligen sowie der gegenwärtige Wirt müssen umgehend aufgespürt werden. Wir sind uns ziemlich sicher, daß Hewlitts einziger körperlicher Kontakt innerhalb des Hospitals mit Patientin Morredeth stattgefunden hat, von der wiederum der Padre die Virenkreatur empfangen hat, bevor diese in einen anderen Patienten eingedrungen ist… «
»Bei allem Respekt, aber es muß sich dabei nicht unbedingt um einen Patienten handeln«, korrigierte ihn Lioren.
O'Mara nickte grimmig und fuhr dann fort: »Padre, ich habe nicht vergessen, daß es zu Ihrem Job gehört, sowohl den Mitarbeitern als auch den Patienten seelischen Beistand zu leisten. Sie müssen noch einmal mit allen reden, und denjenigen ausfindig machen, der sich das Virus von Ihnen eingefangen hat, und, falls es bei der betreffenden Person nicht mehr vorhanden ist, mit allen sprechen, mit denen diese danach in Kontaktgekommen ist, bis sie den aktuellen Wirt aufgespürt haben. Melden sie den Aufenthaltsort sofort dieser Abteilung, und fordern Sie gleichzeitig die Unterstützung des Monitorkorps für die zu treffenden Sicherheitsmaßnahmen an. Stellen Sie den Ort unter Quarantäne, und bleiben Sie dort mit dem betreffenden Wesen, bis Doktor Prilicla eintrifft, damit er die Anwesenheit der Virenkreatur bestätigen kann.