»Ich… ich wußte ja nicht einmal, daß dieses Ding in mir steckte«, antwortete er etwas verlegen. »Tut mir leid.«
Nun meldete sich zum ersten Mal O'Mara zu Wort: »Irgend etwas müssen Sie aber wissen, auch wenn es Ihnen nicht bewußt ist. Haben Sie nicht hin und wieder irgendwelche Gefühle oder Gedanken gehabt, die Ihnen damals eigenartig vorgekommen sind? Oder ist Ihnen aufgefallen, daß Sie Personen, Gegenstände oder Begebenheiten von einem Standpunkt aus betrachtet haben, der sich möglicherweise mit Ihrem eigenen gar nicht vereinbaren ließ? Erinnern Sie sich daran, merkwürdige Träume oder Alpträume gehabt zu haben, oder an atypische Verhaltensweisen? Auch wenn die Inbesitznahme Ihres Körpers durch diese Kreatur keine optisch oder körperlich spürbaren Folgen hatte, so müssen Sie seine Gegenwartzumindest unterbewußt wahrgenommen haben. Können Sie sich rückblickend an irgend etwas in dieser Richtung erinnern? Denken Sie bitte genau nach.«
Hewlitt schüttelte den Kopf. »Die überwiegende Zeit habe ich mich eigentlich recht wohl gefühlt. Allerdings hat es mich zur Weißglut getrieben, wenn ich hin und wieder wirklich krank gewesen bin und mir niemand geglaubt hat. Jetzt kenne ich ja auch den Grund für das, was mir widerfahren ist. Aber dieses Ding ist fast mein ganzes bisheriges Leben in meinem Körper gewesen, also kann ich auch nicht sagen, wie ich mich gefühlt oder verhalten hätte, wenn es nicht in mir drin gewesen wäre. Deshalb fürchte ich, daß ich Ihnen keine große Hilfe bin.«
»Solange Sie nicht bereit sind, wirklich genau nachzudenken, haben Sie wohl recht«, bemerkte O'Mara in geringschätzigem Ton.
»Freund Hewlitt!« mischte sich Prilicla rasch ein, der Hewlitts Gefühle notgedrungen teilte und dessen empfundene Scham auf ein erträgliche Maß reduzieren wollte. »Wahrscheinlich stellt sich die Frage sowieso ganz anders, weil diese Kreatur sozusagen von Natur aus nicht nachweisbar ist. Aber betrachten wir es doch mal so: Über zwanzig Jahre lang sind Sie von einem Wesen in Besitz genommen worden, das die Fähigkeit besaß, den genetischen Entwurf Ihres Körpers genau zu studieren, um Sie gesundheitlich völlig wiederherzustellen, als Sie sich versehentlich vergiftet haben und bei einem Sturz vom Baum und später bei einem Flugzeugunglück schwere Verletzungen zugezogen haben. Dabei kann es sich natürlich um den reinen Selbsterhaltungstrieb handeln, das Leben eines gesunden und langlebigen Wirtskörpers unbedingt aufrechterhalten zu müssen. Ebenso ist es denkbar, daß Ihr ehemaliger Leibarzt Vergnügen und eine gewisse Befriedigung darin findet, sich neuen Lebensformen anzupassen. Vielleicht steckt aber noch mehr dahinter. Von einem hochintelligenten Wesen kann man aber weniger eigennützige und eher subtilere Motive wie Altruismus, einen gewissen Gerechtigkeitssinn oder auch nur Dankbarkeit erwarten. Es konnte Ihre Gefühle mit Ihnen teilen, zumindest diejenigen, die einfacher nachzuvollziehen waren oder von Ihnenbesonders stark empfunden wurden – obwohl es die während Ihrer Pubertät zusammenhängenden Gemütsschwankungen genausowenig wie Sie richtig einzuordnen wußte. Einige Ihrer emotionalen Signale, die unter anderem zur Genesung Ihrer sterbenden Katze und zur Wiederherstellung von Morredeths Fell führten, verstand es wiederum so gut, daß es sich zum sofortigen Handeln genötigt sah.
Hat es das getan, weil es Ihren Kummer geteilt hat, oder wollte es nur die Gelegenheit nutzen, eine andere Lebensform zu erforschen? Unabhängig davon hat es die Katze in einem Gesundheitszustand hinterlassen, der weit über die normale Lebenserwartung dieser Spezies hinaus aufrechterhalten wurde. Sie selbst, Patientin Morredeth und voraussichtlich eine unbekannte Anzahl anderer Wesen hat es ebenfalls zu einer perfekten Gesundheit verhelfen. Jetzt müssen wir das › Warum? ‹ herausfinden. Falls Freund O'Mara eine Idee hat, woher dieses Wesen seine Motivation bezieht, dann würden unsere Chancen, es zu finden und zu isolieren, erheblich steigen.«
»Ich würde Ihnen wirklich gern behilflich sein, wenn ich könnte, aber … «, begann Hewlitt, doch der Chefpsychologe hob ungeduldig die Hand.
»Ja ja, das wissen wir«, murmelte O'Mara. »Jedenfalls hat dieses denkende Wesen in Ihrem Körper gelebt und muß auch Ihre Sinneseindrücke wahrgenommen haben, weil es sich Ihrer Außenwelt bewußt gewesen ist und während der Zwischenfälle mit der Katze und Morredeth unter Ihrer emotionalen Anleitung gehandelt hat. Mir ist klar, daß die Situation ungewöhnlich war, weil Sie in physischer wie psychischer Hinsicht über keine Erfahrungswerte verfügen, um Vergleiche anzustellen. Wenn Sie allerdings die Sinneseindrücke und Gefühle mit dem Wesen geteilt haben, kann man logischerweise davon ausgehen, daß es sich dabei um einen Austauschprozeß gehandelt hat und daß Sie die Gedankengänge der Virenkreatur durchaus zur Kenntnis genommen haben, auch wenn Sie diese nicht richtig einzuordnen wußten.
Wahrscheinlich denken Sie jetzt, daß ich mich an einen Strohhalm klammere, nicht wahr? Tja, und da haben Sie auch völlig recht«, beendete der Chefpsychologe seine Ausführungen. »Trotzdem möchte ich gernwissen, wie Sie darüber denken.«
Hewlitt schwieg eine Weile und versuchte, seine Gedanken zu sortieren, dann antwortete er: »Ich will Ihnen wirklich gern helfen, Major O'Mara. Wenn ich mir aber die Gefühle und Erlebnisse über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren ins Gedächtnis zurückrufen soll, dann kann ich mich an einige Dinge nur noch sehr verschwommen erinnern. Und da ich heute weiß, was wirklich mit und in mir vorgegangen ist, könnte ich unterbewußt dazu neigen, im nachhinein die Wahrheit womöglich noch verzerrter darzustellen, als sie es ohnehin schon gewesen ist. Oder sehen Sie das anders?«
Der Chefpsychologe hatte Hewlitt die ganze Zeit mit seinen stahlgrauen Augen fixiert und erwiderte nur: »Und den nächsten Satz werden Sie höchstwahrscheinlich wieder mit einem ›Aber‹ beginnen.«
»Aber«, fuhr Hewlitt entgegenkommenderweise fort, »die Ereignisse, die mir seit meiner Ankunft im Orbit Hospital widerfahren sind, stellen sich für mich sehr viel klarer dar, und einige meiner Gefühle überraschen mich. Um das genauer zu erklären, muß ich bis in meine Kindheit zurückgehen.«
O'Mara starrte ihn noch immer unentwegt an; der Chefpsychologe schien völlig vergessen zu haben, daß man hin und wieder die Augenlider auf und ab bewegen sollte.
Hewlitt holte tief Atem und erzählte weiter. »Ich bin damals viel zu jung gewesen, um zu verstehen, weshalb von allen Fremdweltlern, die auf dem etlanischen Stützpunkt stationiert waren, ein solch vorbildliches Verhalten verlangt wurde. Aufgrund der noch im Aufbau befindlichen Kulturkontakte mußten sie vor der einheimischen Bevölkerung demonstrieren, wie gut sich Tralthaner, Orligianer, Kelgianer und Terrestrier verstehen und wie schön deren Kinder miteinander spielen können – natürlich nur unter entsprechender Aufsicht. Als ich aber eines Tages von einer melfanischen Amphibie, die anscheinend glaubte, ich könne auch Wasser atmen, auf den Grund gezogen wurde, muß das aufsichtsführende erwachsene Wesen einen anderen Bereich des Schwimmbeckens im Augenmerk gehabt haben. Sicher war das keine Absicht, und ich war auch eher zu Tode erschrocken,als daß ich einen körperlichen Schaden davongetragen hätte, trotzdem habe ich danach nie wieder den Spielplatz einer fremden Spezies aufgesucht. Meine Eltern erzählten mir damals, daß ich diese Angst mit zunehmendem Alter überwinden würde, doch ansonsten fanden sie sich damit ab und unternahmen nichts weiter dagegen. Deshalb habe ich oft allein zu Hause gesessen und mich gelangweilt, bis ich darauf kam, die Gegend zu erforschen, wo dann auch der Unfall mit dem Baum passierte.