»Im Verlauf der etlanischen Bombardierung wurde der Zentralcomputer des Orbit Hospitals zusammen mit dem kompletten Übersetzungscomputersystem für sämtliche ET-Sprachen zerstört, wobei auch Lonvellins Aufzeichnungen zunichte gemacht wurden, so daß … «
»An den Totalausfall des Zentralcomputers kann ich mich auch noch erinnern«, seufzte Murchison mit einer Stimme, die darauf schließen ließ, daß es sich dabei um ein äußerst unangenehmes Erlebnis gehandelt haben mußte. »An einen Patienten namens Lonvellin hingegen überhaupt nicht.«
»…so daß alles, was wir über seinen Fall noch wissen, allenfalls die schwachen Erinnerungen der Diagnostiker Conway und Thornnastor und auch von mir sind«, fuhr Prilicla fort. »Schließlich haben wir drei direkt mit seiner Behandlung zu tun gehabt. Da er als geheilt entlassen wurde und sein nachfolgender Tod in keinerlei Zusammenhang mit seiner Behandlung im Orbit Hospital stand, haben wir damals auch keinen Anlaß gesehen, seine Krankengeschichte erneut aufzuzeichnen. Außerdem brauchen Sie sichkeinen Vorwurf zu machen, daß Sie sich nicht an Lonvellin erinnern können, Freundin Murchison. Zu der Zeit sind Sie erst im letzten Ausbildungsjahr gewesen und noch längst keine Pathologieexpertin. Außerdem hatten Sie noch keine Ahnung, daß Sie die Lebensgefährtin des damaligen Chefarztes Conway werden würden, obwohl ich mich noch sehr gut an Ihre emotionale Ausstrahlung erinnern kann, wenn Sie beide aufgrund des Dienstplans zusammen in einem Raum arbeiten mußten und…«
»Unsere emotionale Ausstrahlung ist damals sicherlich unser Berufsgeheimnis gewesen«, unterbrach ihn Murchison, die selbst nach so vielen Jahren sichtlich nervös wirkte.
»Wohl kaum«, widersprach Prilicla, »denn Ihre emotionale Ausstrahlung war damals im Hospital so gut wie jedem bekannt. Darüber hinaus strahlte jeder terrestrische männliche Mitarbeiter der Klassifikation DGBD in Ihrer Gegenwart ähnliche Gefühle aus, auch wenn diese durch Neid ersetzt wurden, als Sie und Conway sich offiziell vermählt haben. Na ja, und von Lonvellin werden Sie höchstwahrscheinlich, Ms überhaupt, nur am Rande erfahren haben. Wenn Sie mit Conway mal allein zusammen waren, haben Sie die Zeit bestimmt nicht mit ausgiebigen Diskussionen über irgendwelche Patienten verbracht, nicht wahr?«
»Da haben Sie wohl nicht ganz unrecht«, seufzte Murchison, und ihrer sehnsuchtsvollen Stimme war anzumerken, daß sie sich in Gedanken in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort befand und daß es sich dabei um sehr angenehme Erinnerungen handeln mußte.
Prilicla ließ die Pathologin erst einmal ins Hier und Jetzt zurückkehren, bevor er fortfuhr: »Jedenfalls handelt es sich um dieselben Informationen, die ich für Shech-Rar und Freund Stillman aufgenommen habe, und Sie können sich das Originalband ja jederzeit ansehen. Das aufgezeichnete Protokoll eines Diagnostikertreffens könnte für einen medizinischen Laien allerdings etwas schwierig zu verstehen sein, deshalb werde ich es für Freund Hewlitt in vereinfachter Form zusammenfassen… «
Lonvellin war von einer Raumpatrouille des Monitorkorps in einem Schiffgefunden worden, das, obwohl es unbeschädigt gewesen war, Notsignale ausgesandt hatte. Damals bezichtigte man ihn anfänglich des Mordes und möglicherweise sogar des Kannibalismus, da das vorgefundene Logbuch auf die Anwesenheit eines zweiten Wesens an Bord schließen ließ, bei dem es sich um eine Art Leibarzt gehandelt haben mußte, der seinen Dienstherrn anscheinend falsch behandelt hatte und von dem keine Spur mehr zu entdecken war. Aus diesem Grund, und auch weil es sich bei dem Patienten um ein ausgesprochen korpulentes und mit natürlichen Waffen hervorragend ausgestattetes Wesen handelte, wurde es bis zur endgültigen Klärung der Angelegenheit unter die Obhut des Monitorkorps gestellt.
Lonvellin war ein warmblütiger Sauerstoffarmer der physiologischen Klassifikation EPLH. Sein Kopf war lediglich eine unbewegliche knöcherne Schädelkuppe, die auf einem birnenförmigen, schuppigen Körper saß. Direkt unterhalb der fünf Tentakel befanden sich in regelmäßigen Abständen große Mundöffnungen, von denen vier verschwenderisch mit Zähnen ausgerüstet waren und einer als Sprechapparat diente. Die Tentakel selbst wiesen an ihren Enden auf einen hohen Spezialisierungsgrad hin; drei von ihnen dienten als Greifarme, einer enthielt die Sehorgane, und der letzte war mit einer harten, knochigen Spitze besetzt, die einer Keule glich, mit der sich diese Spezies ganz offensichtlich bis auf den Wipfel ihres evolutionären Stammbaums hochgeprügelt hatte. Der stark muskulöse untere Teil wies auf eine schlangenähnliche, wenn auch nicht unbedingt langsame Fortbewegungsmethode hin.
Der EPLH litt an Schuppengeschwulsten aus Epithelzellen im fortgeschritten Stadium, die sich bereits über den ganzen Körper ausgebreitet hatten, doch wurde ein solcher krebsartiger Zustand der Schuppenhaut normalerweise nicht von einer tiefen Ohnmacht begleitet. Als ihm ein rasch wirkendes Mittel, das für den Metabolismus des EPLH geeignet war, subkutan injiziert wurde, gingen die Geschwülste an der behandelten Stelle zurück. Allerdings zeigte der Körper des Patienten kurz darauf panikartige Reaktionen, wodurch die Wirkung des Medikaments auf unergründliche Weise neutralisiert wurde, und die Geschwülste wiederauftraten. Während dieser Vorgänge meldeten die Biosensoren, daß sich der Patient die ganze Zeit in tiefer Bewußtlosigkeit befunden hatte und aufgrund des narkotisierten Zustands zu keiner körperlichen Regung in der Lage hätte sein dürfen. Da Lonvellin auf die medikamentöse Behandlung nicht ansprach, wurde mit der operativen Entfernung der befallenen Schuppen begonnen, doch auch dagegen sträubte sich der Körper des Patienten. Nachdem die ersten Geschwülste noch erfolgreich herausgeschnitten worden waren, entwickelten die übrigen Schuppen komplizierte Wurzelsysteme, deren Ausläufer tiefer liegende Organe zu durchdringen drohten, so daß eine weitere Entfernung ohne lebensbedrohliche Folgen unmöglich schien.
In der Hoffnung, eine Erklärung für dieses medizinisch rätselhafte Phänomen zu finden – sowie für die Tatsache, daß der EPLH vehemente körperliche Reaktionen zeigte, obwohl er angeblich bewußtlos war und zu keiner Regung in der Lage hätte sein dürfen -, ordnete Conway eine Untersuchung der emotionalen Ausstrahlung des Patienten an.
»Und an diesem Punkt trat ich auf den Plan«, fuhr Prilicla fort. »Wir fanden rasch heraus, daß in Lonvellin eine zweite intelligente Lebensform steckte; ein total eigenständig denkendes und voll bei Bewußtsein befindliches Wesen, bei dem die dem Patienten verabreichten Medikamente keinerlei Wirkung gezeigt hatten, und dessen Gegenwart von keinem Scanner oder anderem Diagnoseinstrument registriert worden war. Wie es für einen angehenden Diagnostiker typisch ist, folgte Freund Conway damals einer spontanen Eingebung, indem er davon ausging, daß dieses zweite Wesen sowohl allgegenwärtig als auch zu klein sein könnte, um bei einer normalen Scanneruntersuchung entdeckt zu werden. Diese von ihm aufgestellte Hypothese basierte allein auf den wenigen Tatsachen, die sich aus der Untersuchung des Patienten ergaben sowie aus den dem Logbuch zu entnehmenden Hinweisen auf einen Leibarzt… «
Lonvellin war ein in die Jahre gekommener Angehöriger dieser ohnehin extrem langlebigen Spezies. Wie alle Wesen im fortgeschrittenen Alter war auch er einem zunehmenden körperlichen Verfall ausgesetzt, und das trotzall seiner Bemühungen, sich physisch und mental ständig zu regenerieren, um seine Arbeit fortsetzen zu können, die sein einziger Lebensinhalt war. Bei dieser Tätigkeit kümmerte er sich als grundsätzlich friedfertiges Wesen ausschließlich um rückständige oder auf Abwege geratene planetarische Zivilisationen, um deren Lebensverhältnisse zu verbessern. Da er nicht damit rechnen konnte, auf den Planeten, auf denen er zu tun hatte, eine adäquate medizinische Versorgung vorzufinden, wurde er stets von einem Leibarzt begleitet, der seinen sehr hohen medizinischen Ansprüchen genügen mußte.