Als er bereits zweimal die Station durchquert hatte und gerade die dritte Runde drehte, kam Leethveeschi aus dem Personalraum gewatschelt und versperrte ihm den Weg.
»Bitte gehen Sie nicht so schnell, Patient Hewlitt!« ermahnte sie ihn. »Sie könnten mit einer meiner Schwestern zusammenstoßen und sich dabei gegenseitig verletzen. Darüber hinaus ist Ihnen offensichtlich nicht klar, daß eine solch plastische Demonstration ihrer körperlicher Fitness gegenüber den anderen Patienten, die wirklich ernsthaft krank, verletzt oder ans Bett gefesselt sind, nicht gerade von großem Einfühlungsvermögen zeugt. Wenn Sie also unbedingt hier herummarschieren müssen, dann führen Sie Ihre Bewegungen bitte etwas langsamer aus.«
»Das tut mir leid, aber daran hatte ich wirklich nicht gedacht, Oberschwester«, entschuldigte sich Hewlitt kleinlaut.
Während er sich mit gedrosselter Geschwindigkeit fortbewegte, fühlte er sich immer unbehaglicher dabei, weiterhin nur stur geradeaus oder auf den Fußboden zu starren. Deshalb rang er sich schließlich dazu durch, wenigstens kurze Blicke auf die Patienten zu werfen, an deren Betten er vorbeikam. Die meisten beachteten ihn nicht, weil sie wahrscheinlich schliefen, zu krank waren oder ihn – genauso wie er sie – als zu häßlich empfanden. Die anderen Patienten verfolgten ihn mit den Augen, in einigen Fällen mit viel zu vielen, und es wunderte ihn nicht, daß sich lediglich eine Kelgianerin traute, ihn anzusprechen.
»Meines Erachtens sehen Sie für einen Terrestrier sehr gesund aus«,meinte die Kelgianerin, wobei sie das Fell kräuselte, das auf der sichtbaren Seite von einem großen Rechteck aus silbergrauem Stoff bedeckt war. »Was fehlt Ihnen denn?«
»Ich weiß auch nicht, was mir fehlt«, antwortete Hewlitt, der stehengeblieben war, um die Kelgianerin besser ansehen zu können. »Genau das versucht man jetzt hier im Orbit Hospital herauszufinden.«
»An dem Tag, an dem Sie eingeliefert worden sind, hat Leethveeschi doch das Reanimationsteam gerufen, nicht wahr? Es muß sehr ernst um Sie stehen«, meinte die Kelgianerin. »Werden Sie sterben?«
»Das hoffe ich doch nicht. Aber wie ich schon sagte, weiß ich selbst nicht, was mit mir ist«, antwortete Hewlitt.
Die Kelgianerin lag seitlich in einem großen, quadratischen Bett auf der Decke und hatte ihren pelzigen Körper zu einem S geformt, das etwas an Konturen verlor, als sie sich ein Stückchen mit dem Oberkörper hochwand. »Mir wird immer ganz übel, wenn ich sehe, wie ihr Terrestrier nur auf zwei Beinen das Gleichgewicht halten könnt. Wenn Sie sich mit mir unterhalten möchten, dann setzen Sie sich doch bitte auf die Bettkante. Keine Angst, ich bin nicht zerbrechlich, und ich werde auch nicht beißen, ich bin nämlich Pflanzenfresserin.«
Nachdem die Kelgianerin das erwähnt hatte, wurde Hewlitt schlagartig klar, wie befremdlich es für ein Wesen sein mußte, das sich auf vierunddreißig Füßen fortbewegte, wenn jemand nur zwei Beine zum Gehen benötigte. Auf jeden Fall beruhte das Gefühl auf Gegenseitigkeit. Als er sich auf die Bettkante setzte, achtete er geflissentlich darauf, den pelzigen Körper und die kurzen Raupenbeine der Kelgianerin bloß nicht mit den Oberschenkeln zu berühren.
Er hatte sich schon immer gern mit anderen Leuten unterhalten, und wenn er die Augen schloß oder hin und wieder einfach wegsah, könnte er sich vielleicht einbilden, daß die Kreaturen an diesem Ort auch in diese Kategorie fielen. Innerlich bereitete er sich auf ein höflich geführtes Gespräch vor, falls eine solche Form der Konversation mit einer Kelgianerin überhaupt möglich war.»Mein Name ist übrigens Hewlitt«, stellte er sich vor. »Ich habe mitbekommen, daß Sie einige Male an meinem Bett vorbeigegangen sind, und zwar gewöhnlich mit einer Tralthanerin oder einem Dwerlaner und einmal auch mit einem Duthaner, soweit ich mich erinnern kann. Um die verschiedenen physiologischen Klassifikationen kennenzulernen und einen besseren Überblick zu bekommen, habe ich mir einige Programme aus der Bibliothek angesehen. Dadurch weiß ich jetzt, wer mir etwas anhaben kann und wer nicht, wenngleich ich mir bei einigen Wesen immer noch nicht ganz sicher bin.«
»Ich heiße Morredeth«, stellte sich nun ihrerseits die Kelgianerin vor. »Das mit dem Duthaner und den anderen beiden haben Sie ganz richtig erkannt. Wenn wir an Ihrem Bett vorbeigekommen sind, haben Sie nie etwas gesagt. Deshalb sind wir der Meinung gewesen, daß Sie entweder sehr krank oder einfach nur ungesellig sind.«
»Ich habe Sie nicht angesprochen, weil Sie sich immer mit Ihren Begleitern unterhalten haben«, entgegnete Hewlitt. »Außerdem hielt ich es nicht für höflich, Sie zu unterbrechen.«
»Höflich! Schon wieder dieses komische Wort!« empörte sich die Kelgianerin, wobei sich ihr Fell stachelig aufrichtete. »In unserer Sprache gibt es dafür keinen entsprechenden Ausdruck. Wenn Sie mit mir reden wollten, dann hätten Sie das ruhig tun sollen. Hätte ich nämlich keine Lust gehabt, Ihnen zuzuhören, dann hätte ich Sie schon aufgefordert, lieber den Mund zu halten. Warum müssen Nichtkelgianer immer alles so furchtbar kompliziert machen?«
Hewlitt empfand das als eine rhetorische Frage, die man nicht beantworten mußte. »Und was fehlt Ihnen, Morredeth?« erkundigte er sich nach dem Wohlbefinden der Kelgianerin. »Ist es etwas Ernsthaftes?«
Selbst als sich das darauffolgende Schweigen in die Länge zu ziehen begann, machte die Kelgianerin noch immer keine Anstalten, die Frage zu beantworten. Wie sich Hewlitt erinnerte, waren Kelgianer zwar psychisch nicht imstande zu lügen, doch konnte sie nichts und niemand davon abhalten zu schweigen, wenn sie nicht antworten wollten. Gerade als er sich für dieFrage entschuldigen wollte, begann Morredeth zu sprechen.
»Die ursprüngliche Verletzung war eigentlich nicht so schwerwiegend, die Folgeerscheinungen sind allerdings sehr ernst und unheilbar. Leider werde ich nicht daran sterben, trotzdem möchte ich nicht darüber sprechen.«
Hewlitt zögerte, bevor er fragte: »Möchten Sie sich über etwas anderes unterhalten, oder möchten Sie lieber, daß ich gehe?«
Ohne auf die Frage einzugehen, fuhr Morredeth fort: »Lioren meint, ich solle versuchen, darüber zu sprechen und nachzudenken, anstatt das Problem zu verdrängen. Im Moment möchte ich mich aber lieber über die anderen Patienten, das Klinikpersonal und solche Dinge unterhalten, damit ich nicht dauernd daran denken muß. Natürlich kann ich nicht die ganze Zeit über etwas anderes reden und nachdenken, vor allem dann nicht, wenn alle Patienten schlafen oder wenn die Nachtschwester sich nicht mehr mit mir unterhalten kann, weil sie andere Dinge zu erledigen hat. Selbst im Schlaf werde ich noch von meinen Problemen eingeholt. Ich weiß nicht, wie es bei Ihrer Spezies ist, aber Kelgianer haben keine Kontrolle über den Ablauf ihrer Träume.«
»Da geht es uns Terrestriern auch nicht besser«, antwortete Hewlitt, der die ganze Zeit das silberne Stoffrechteck auf dem Körper der Kelgianerin musterte und sich fragte, welch schreckliche Verletzung sich darunter verbergen könnte.
Morredeth entging das natürlich nicht. »Ich habe wirklich keine Lust, darüber reden«, bekräftigte sie mit gekräuseltem Fell.