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»Dank? Fällt mir gerade ein!«

Heinrich verschwindet türenschmetternd, ein echter, aufrechter Deutscher, der niemandem jemals Dank schuldet.

»Brauchen wir den Zaster tatsächlich so dringend?«frage ich.

»Dringend genug«, erwidert Georg.»Aber jetzt laß uns abrechnen. Wieviel Geld hast du?«

»Genug. Ich habe das Reisegeld dritter Klasse geschickt bekommen. Ich fahre vierter und spare damit zwölf Mark. Mein Klavier habe ich verkauft – ich kann es nicht mitschleppen. Der alte Kasten hat hundert Mark eingebracht. Das sind zusammen hundertzwölf Mark. Davon kann ich leben, bis ich mein erstes Gehalt bekomme.«

Georg nimmt dreißig holländische Gulden und hält sie mir hin.»Du hast als Spezialagent gearbeitet. Damit hast du Anrecht auf eine Provision wie Tränen-Oskar. Für besondere Leistung fünf Prozent Zuschlag.«

Es entsteht ein kurzer Wettstreit; dann nehme ich das Geld als Rücklage für den Fall, daß ich im ersten Monat bereits aus meiner neuen Stellung rausfliege.»Weißt du schon, was du in Berlin machen mußt?«fragt Georg.

Ich nicke.»Feuer melden; Diebstähle beschreiben; kleine Bücher besprechen; Bier holen für die Redakteure; Bleistifte anspitzen; Druckfehler korrigieren – und versuchen, weiterzukommen.«

Die Tür wird mit einem Fußtritt geöffnet. Wie ein Gespenst steht der Feldwebel Knopf im Rahmen.»Ich verlange acht Billionen«, krächzt er.

»Herr Knopf«, sage ich.»Sie sind aus einem langen Traum noch gar nicht ganz aufgewacht. Die Inflation ist vorbei. Vor vierzehn Tagen hätten Sie acht Billionen für den Stein bekommen können, den Sie für acht Milliarden gekauft haben. Heute sind es acht Mark.«

»Ihr Lumpen! Ihr habt das absichtlich getan!«

»Was?«

»Mit der Inflation aufgehört! Um mich auszuräubern! Aber ich verkaufe nicht! Ich warte auf die nächste!«

»Was?«

»Die nächste Inflation!«

»Gut«, sagt Georg.»Darauf wollen wir einen trinken.«

Knopf greift als erster nach der Flasche.»Wetten?«fragt er.

»Um was?«

»Daß ich schmecken kann, woher die Flasche kommt.«

Er zieht den Korken heraus und riecht.»Ausgeschlossen, daß Sie das rausfinden«, sage ich.»Bei Korn vom Faß vielleicht – wir wissen, daß Sie darin der beste Kenner der Provinz sind -, aber nie bei Schnaps in der Flasche.«

»Um wieviel wetten Sie? Um den Preis des Grabsteins?«

»Wir sind plötzlich verarmt«, erwidert Georg.»Aber wir wollen drei Mark riskieren. Auch in Ihrem Interesse.«

»Gut. Geben Sie mir ein Glas.«

Knopf riecht und probiert. Dann verlangt er ein zweites und ein drittes Glas voll.»Geben Sie es auf«, sage ich.»Es ist unmöglich. Sie brauchen nicht zu zahlen.«

»Dieser Schnaps ist aus dem Delikatessengeschäft von Brockmann an der Marienstraße«, sagt Knopf.

Wir starren ihn an. Es stimmt.»Her mit dem Zaster!«krächzt er. Georg zahlt die drei Mark, und der Feldwebel verschwindet.»Wie war das möglich?«sage ich.»Hat die alte Schnapsdrossel übersinnliche Kräfte?«

Georg lacht plötzlich.»Er hat uns reingelegt!«

»Wie?«

Er hebt die Flasche. Auf die Rückseite ist unten ein winziges Schildchen geklebt: J. Brockmann, Delikatessen, Marienstraße 18.»So ein Gauner!«sagt er vergnügt.»Und was für Augen er noch hat!«

»Augen!«sage ich.»Übermorgen nacht wird er daran zweifeln, wenn er nach Hause kommt und den Obelisken nicht mehr findet. Auch seine Welt wird für ihn einstürzen.«

»Stürzt deine ein?«fragt Georg.

»Täglich«, erwidere ich.»Wie sollte man sonst leben?«

Zwei Stunden vor der Abfahrt glauben wir draußen Trappeln, Stimmen und Töne zu hören.

Gleich darauf geht es auf der Straße vierstimmig los:

»Heil’ge Nacht, o gieße du

Himmelsfrieden in dies Herz -«

Wir treten ans Fenster. Auf der Straße steht Bodo Ledderhoses Verein.»Was ist denn das?«frage ich.»Mach Licht, Georg!«

Im matten Schein, der vom Fenster auf die Straße fällt, erkennen wir Bodo.»Es gilt dir«, sagt Georg.»Ein Abschiedsständchen deines Vereins. Vergiß nicht, daß du dort Mitglied bist.«

»Schenk dem müden Pilger Ruh, holde Labung seinem Schmerz -«tönt es mächtig weiter.

Fenster öffnen sich.»Ruhe!«schreit die alte Konersmann.

»Es ist Mitternacht, ihr besoffenes Gesindel!«

»Hell schon erglühn die Sterne, leuchten in blauer Ferne -«

Lisa erscheint im Fenster und verneigt sich. Sie glaubt, das Ständchen gelte ihr.

Kurz darauf ist die Polizei da.»Gehen Sie auseinander!«kommandiert eine markige Stimme.

Die Polizei hat sich mit der Deflation geändert. Sie ist scharf und energisch geworden. Der alte Preußengeist ist wieder da.

Jeder Zivilist ist ein ewiger Rekrut.

»Nächtliche Ruhestörung!«schnauzt der amusische Uniformträger.

»Verhaftet sie!«heult die Witwe Konersmann.

Bodos Verein besteht aus zwanzig handfesten Sängern. Dagegen stehen zwei Polizisten.»Bodo«, rufe ich besorgt.»Rührt sie nicht an! Verteidigt euch nicht! Ihr kommt sonst für Jahre ins Zuchthaus!«

Bodo macht eine beruhigende Geste und singt mit weit offenem Munde:

»Möchte mit dir so gerne ziehn – himmelwärts.«

»Ruhe, wir wollen schlafen!«schreit die Witwe Konersmann.

»Heda!«ruft Lisa den Polizisten zu.»Laßt doch die Sänger in Ruhe! Warum seid ihr nicht da, wo gestohlen wird?«

Die Polizisten sind verwirrt. Sie kommandieren noch ein paarmal:»Alles zur Polizeistation!«- aber niemand rührt sich. Bodo beginnt die zweite Strophe. Die Polizisten tun schließlich, was sie können – sie verhaften jeder einen Sänger.»Verteidigt euch nicht!«rufe ich.»Es ist Widerstand gegen die Staatsgewalt!«

Die Sänger leisten keinen Widerstand. Sie lassen sich abführen.

Der Rest singt weiter, als wäre nichts geschehen. Die Station ist nicht weit. Die Polizisten kommen im Laufschritt wieder und verhaften zwei weitere Sänger. Die andern singen weiter; aber der erste Tenor ist recht schwach geworden. Die Polizisten verhaften von rechts; beim drittenmal wird Willy abgeführt, und damit ist der erste Tenor zum Schweigen gebracht. Wir reichen Bierflaschen aus den Fenstern.»Halte aus, Bodo!«sage ich.

»Keine Angst! Bis zum letzten Mann!«

Die Polizei kommt wieder und verhaftet im zweiten Tenor. Wir haben kein Bier mehr und stiften unsern Korn. Zehn Minuten später singen nur noch die Bässe. Sie stehen da, ohne hinzuschauen, wie verhaftet wird. Ich habe einmal gelesen, daß Walroßherden so unbeteiligt bleiben, während Jäger unter ihnen mit Keulen die Nachbarn erschlagen – und gesehen habe ich, daß ganze Völker im Kriege dasselbe tun.

Nach einer weiteren Viertelstunde steht Bodo Ledderhose allein da. Die schwitzenden, wütenden Polizisten kommen zum letztenmal angaloppiert. Sie nehmen Bodo in die Mitte. Wir folgen ihm zur Station. Bodo summt einsam weiter.»Beethoven«, sagt er kurz und summt wieder, eine einzelne musikalische Biene.

Aber plötzlich ist es, als ob Windharfen ihn aus unendlicher Ferne begleiteten. Wir horchen auf. Es klingt wie ein Wunder – aber Engel scheinen tatsächlich mitzusummen, Engel im ersten und zweiten Tenor und in den beiden Bässen. Sie umschmeicheln und umgaukeln Bodo und werden deutlicher, je weiter wir kommen, und als wir um die Kirche biegen, können wir die fliegenden, körperlosen Stimmen sogar verstehen. Sie singen»Heil’ge Nacht, o gieße du -«, und an der nächsten Ecke erkennen wir, woher sie kommen: aus der Polizeiwache, in der Bodos verhaftete Kameraden furchtlos stehen und weitersingen, ohne sich um etwas zu kümmern. Bodo als Dirigent tritt zwischen sie, als wäre das die alltäglichste Sache von der Welt, und weiter geht es:»Schenk dem müden Pilger Ruh -«

»Herr Kroll, was soll das?«fragt der Vorsteher der Wache perplex.

»Es ist die Macht der Musik«, erwidert Georg.»Ein Abschiedsständchen für einen Menschen, der in die Welt hinausgeht. Harmlos und eigentlich zu fördern.«

»Das ist alles?«

»Das ist alles.«

»Es ist nächtliche Ruhestörung«, erklärt einer der Verhafter.

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