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Das ist manches, denke ich, und lege das Kraut weg.»Das menschliche Gehirn!«sagt Wernicke fast schwärmerisch.

»Früher wollte ich mal Matrose und Abenteurer und Forscher im Urwald werden – lachhaft! Das größte Abenteuer steckt hier!«

Er klopft sich an die Stirn.»Ich glaube, ich habe Ihnen das schon früher einmal erklärt.«

»Ja«, sage ich.»Schon oft.«

Die grünen Schalen der Kastanien rascheln unter meinen Füßen. Verliebt wie ein Mondkalb, denke ich, was versteht dieser Tatsachenkaffer schon darunter? Wenn es so einfach wäre! Ich gehe zum Tor und streife fast an eine Frau, die mir langsam entgegenkommt. Sie trägt eine Pelzstola und gehört nicht zur Anstalt. Ich sehe ein blasses verwischtes Gesicht im Dunkeln, und ein Ruch von Parfüm weht hinter ihr her.»Wer war das?«frage ich den Wächter am Ausgang.

»Eine Dame für Doktor Wernicke. War schon ein paarmal hier. Hat, glaub’ ich, einen Patienten hier.«

Die Mutter, denke ich und hoffe, daß es nicht so sei. Ich bleibe draußen stehen und starre zur Anstalt hinüber. Wut packt mich, Zorn, lächerlich gewesen zu sein, und dann ein erbärmliches Mitleid mit mir selber – aber schließlich bleibt nichts als Hilflosigkeit. Ich lehne mich an eine Kastanie und fühle den kühlen Stamm und weiß nicht, was ich will und was ich möchte.

Ich gehe weiter, und während ich gehe, wird es besser. Laß sie reden, Isabelle, denke ich, laß sie lachen über uns als Mondkälber! Du süßes, geliebtes Leben, du fliegendes, ungehemmtes, das da sicher trat, wo andere versinken, das schwebte, wo andere mit Kanonenstiefeln trampeln, aber das sich verstrickte und blutig riß in Spinnenfäden und an Grenzen, die die anderen nicht sehen – was wollen sie nur von dir? Wozu müssen sie dich so gierig zurückreißen wollen in ihre Welt, in unsere Welt, warum lassen sie dir nicht dein Schmetterlingsdasein jenseits von Ursache und Wirkung und Zeit und Tod? Ist es Eifersucht? Ist es Ahnungslosigkeit? Oder ist es wahr, was Wernicke sagt, daß er dich retten muß davor, daß es schlimmer wird, vor den namenlosen Ängsten, die noch gekommen wären, stärker als die, die er selbst beschworen hat, und schließlich vor dem krötenhaften Dahindämmern in Stumpfsinn? Aber ist er sicher, daß er das kann? Ist er sicher, daß er nicht gerade mit seinen Rettungsversuchen dich zerbricht oder dich rascher dahin stößt, wovor er dich retten will? Wer weiß das? Was weiß dieser Wissenschaftler, dieser Schmetterlingssammler schon vom Fliegen, vom Wind, von den Gefahren und dem Entzücken der Tage und Nächte ohne Raum und Zeit? Kennt er die Zukunft? Hat er den Mond getrunken? Weiß er, daß Pflanzen schreien? Er lacht darüber. Für ihn ist das alles nur eine Ausweichreaktion auf ein brutales Erlebnis. Aber ist er ein Prophet, der voraussieht, was geschehen wird? Ist er Gott, daß er weiß, was geschehen muß? Was hat er schon von mir gewußt? Daß es ganz gut wäre, wenn ich etwas verliebt gewesen wäre? Aber was weiß ich selbst davon? Es ist aufgebrochen und strömt und hat kein Ende, was habe ich davon geahnt? Wie kann man so hingegeben sein an jemand? Habe ich es nicht selbst immer wieder fortgewiesen in den Wochen, die nun wie ein unerreichbarer Sonnenuntergang fern am Horizont liegen? Aber was klage ich? Worum habe ich Angst? Kann nicht alles gut werden und Isabelle gesund und -

Da stocke ich. Was dann? Wird sie nicht fortgehen? Und ist dann nicht plötzlich eine Mutter mit einer Pelzstola da, mit diskretem Parfüm, mit Verwandten im Hintergrund und Ansprüchen für ihre Tochter? Ist sie dann nicht verloren für mich, der nicht einmal genug Geld zusammenbringen kann, um sich einen Anzug zu kaufen? Und bin ich vielleicht nur deshalb so verwirrt? Aus stumpfem Egoismus, und alles andere ist nur Dekoration?

Ich trete in eine Kcllerkneipe. Ein paar Chauffeure sitzen da, ein welliger Spiegel wirft mir vom Büfett her mein verzogenes Gesicht zurück, und vor mir, in einem Glaskasten, liegt ein halbes Dutzend vertrockneter Brötchen mit Sardinen, die vor Alter die Schwänze hochkrümmen. Ich trinke einen Korn und habe das Gefühl, daß mein Magen ein tiefes, reißendes Loch hat. Ich esse die Brötchen mit den Sardinen und noch einige andere mit altem, hochgewölbtem Schweizer Käse; sie schmecken scheußlich, aber ich stopfe sie in mich hinein und esse Würstchen hinterher, die so rot sind, daß sie fast wiehern, und ich werde immer unglücklicher und hungriger und könnte das Büfett anfressen.

»Mensch, Sie haben aber einen schönen Appetit«, sagte der Wirt.

»Ja«, sage ich.»Haben Sie noch irgend etwas?«

»Erbsensuppe. Dicke Erbsensuppe, wenn Sie da noch Brot reinbrocken -«

»Gut, geben Sie mir die Erbsensuppe.«

Ich schlinge die Erbsensuppe hinunter, und der Wirt bringt mir freiwillig, als Zugabe, noch einen Kanten Brot mit Schweineschmalz. Ich verputze ihn auch und bin hungriger und unglücklicher als vorher. Die Chauffeure fangen an, sich für mich zu interessieren.»Ich kannte mal jemand, der konnte dreißig harte Eier auf einen Sitz essen«, sagt einer.

»Das ist ausgeschlossen. Da stirbt er; das ist wissenschaftlich nachgewiesen.«

Ich starre den Wissenschaftler böse an.»Haben Sie es gesehen?«frage ich.

»Es ist sicher«, erwidert er.

»Es ist gar nicht sicher. Wissenschaftlich nachgewiesen ist nur, daß Chauffeure früh sterben.«

»Wieso denn das?«

»Wegen der Benzindämpfe. Langsame Vergiftung.«

Der Wirt erscheint mit einer Art italienischem Salat. Er hat seine Schläfrigkeit gegen ein sportliches Interesse eingetauscht. Woher er den Salat mit der Mayonnaise hat, ist ein Rätsel. Der Salat ist sogar frisch. Vielleicht hat er ihn von seinem eigenen Abendessen geopfert. Ich vertilge ihn noch und breche auf – mit brennendem Magen, der immer noch leer scheint und um nichts getröstet.

Die Straßen sind grau und trübe beleuchtet. Bettler stehen überall herum. Es sind nicht die Bettler, die man früher kannte – es sind jetzt Amputierte und Schüttler und Arbeitslose und alte, stille Leute mit Gesichtern wie aus zerknittertem farblosem Papier. Ich schäme mich plötzlich, daß ich so sinnlos gefressen habe. Hätte ich das, was ich hinuntergeschlungen habe, an zwei oder drei dieser Leute gegeben, so wären sie für einen Abend satt geworden, und ich wäre nicht hungriger, als ich es jetzt noch bin. Ich nehme das Geld, das ich noch bei mir habe, aus der Tasche und gebe es weg. Es ist nicht mehr viel, und ich beraube mich nicht damit; morgen um zehn Uhr früh wird es ohnehin ein Viertel weniger wert sein, wenn der Dollarkurs herauskommt. Die deutsche Mark hat zum Herbst hin die zehnfache galoppierende Schwindsucht bekommen. Die Bettler wissen es und verschwinden sofort, da jede Minute kostbar ist; der Preis für die Suppe kann in einer Stunde schon um einige Millionen Mark gestiegen sein. Das richtet sich danach, ob der Wirt morgen wieder einkaufen muß oder nicht – und auch danach, ob er ein Geschäftemacher ist oder selbst ein Opfer. Wenn er selbst ein Opfer ist, ist er Manna für die kleineren Opfer und erhöht seine Preise zu spät.

Ich gehe weiter. Aus dem Stadtkrankenhaus kommen ein paar Leute. Sie umgeben eine Frau, die ihren rechten Arm in einer Schiene hochgebunden hat. Ein Geruch von Verbandsmitteln weht mit ihr vorbei. Das Krankenhaus steht wie eine Lichtburg in der Dunkelheit. Fast alle Fenster sind erleuchtet; jedes Zimmer scheint besetzt zu sein. In der Inflation sterben die Leute schnell. Wir wissen das auch.

Ich gehe in der Großen Straße noch zu einem Kolonialwarengeschäft, das oft noch nach dem offiziellen Ladenschluß offen ist. Wir haben mit der Besitzerin ein Abkommen getroffen. Sie hat für ihren Mann von uns einen mittleren Hügelstein geliefert bekommen, und wir haben dafür das Recht, zum Dollarkurs vom zweiten September für Mark im Werte von sechs Dollar Waren bei ihr zu entnehmen. Es ist ein verlängertes Tauschgeschäft. Das Tauschen ist ohnehin längst überall Mode. Man tauscht alte Betten gegen Kanarienvögel und Nippsachen, Porzellan gegen Wurst, Schmuck gegen Kartoffeln, Möbel gegen Brot, Klaviere gegen Schinken, gebrauchte Rasierklingen gegen Gemüseabfall, alte Pelze gegen umgearbeitete Militärjacken und den Nachlaß Verstorbener gegen Lebensmittel. Georg hatte vor vier Wochen sogar eine Chance, einen fast neuen Smoking beim Verkauf einer abgebrochenen Marmorsäule mit Fundament einzuhandeln. Er hat nur schweren Herzens darauf verzichtet, da er abergläubisch ist und glaubt, in den Sachen der Toten bleibe lange Zeit noch etwas von den Toten zurück. Die Witwe erklärte ihm, sie habe den Smoking chemisch reinigen lassen; er sei damit also eigentlich vollkommen neu, und man hätte annehmen können, daß die Chlordämpfe den Verstorbenen aus jeder Falte vertrieben hätten. Georg schwankte sehr, denn der Smoking paßte ihm; er verzichtete dann aber trotzdem.

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