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»Ich fühle mich immerfort für alles in der Welt verantwortlich. Bin ich eigentlich ein Psychopath?«

Wernicke bricht in ein beleidigendes Gelächter aus.»Das möchten Sie wohl! So einfach ist das nicht! Sie sind völlig uninteressant. Ein ganz normaler Durchschnittsadoleszent!«

Ich komme auf die Große Straße. Langsam schiebt sich ein Demonstrationszug vom Markt her heran. Wie Möwen vor einer dunklen Wolke flattern hastig noch eine Anzahl hellgekleideter Sonntagsausflügler mit Kindern, Eßpaketen, Fahrrädern und buntem Krimskrams vor ihm her – dann ist er da und versperrt die Straße.

Es ist ein Zug von Kriegskrüppeln, die gegen ihre niedrigen Renten protestieren. Voran fährt auf einem kleinen Rollwagen der Stumpf eines Körpers mit einem Kopf. Arme und Beine fehlen. Es ist nicht mehr möglich, zu sehen, ob der Stumpf früher ein großer oder ein kleiner Mann gewesen ist. Selbst an den Schultern kann man es nicht mehr abschätzen, da die Arme so hoch amputiert worden sind, daß kein Platz für Prothesen mehr da war. Der Kopf ist rund, der Mann hat lebhafte braune Augen und trägt einen Schnurrbart. Jemand muß jeden Tag auf ihn achtgeben – er ist rasiert, das Haar ist geschnitten und der Schnurrbart gestutzt. Der kleine Wagen, der eigentlich nur ein Brett mit Rollen ist, wird von einem Einarmigen gezogen. Der Amputierte sitzt sehr gerade und aufmerksam darauf. Ihm folgen die Wagen mit den Beinamputierten; je drei nebeneinander. Es sind Wagen mit großen Gummirädern, die mit den Händen vorwärtsbewegt werden. Die Lederschürzen, die die Stellen zudecken, wo Beine sein müßten, und die gewöhnlich geschlossen sind, sind heute offen. Man sieht die Stümpfe. Die Hosen sind sorgfältig darumgefaltet.

Als nächste kommen Amputierte mit Krücken. Es sind die sonderbar schiefen Silhouetten, die man so oft gesehen hat – die geraden Krücken und dazwischen der etwas schräghängende Körper. Dann folgen Blinde und Einäugige. Man hört die weißen Stäbe auf das Pflaster tappen und sieht an den Armen die gelben Binden mit den drei Punkten. Die Augenlosen sind dadurch so bezeichnet, wie man die geschlossenen Einfahrten von Einbahnstraßen oder Sackgassen markiert – mit den drei schwarzen runden Bällen des verbotenen Verkehrs. Viele der Verletzten tragen Schilder mit Aufschriften. Auch die Blinden tragen welche, wenn sie sie auch nie mehr lesen können.»Ist das der Dank des Vaterlandes?«steht auf einem.»Wir verhungern«, auf einem anderen.

Dem Mann auf dem kleinen Wagen hat man einen Stock mit einem Zettel vorn in seine Jacke gesteckt. Darauf steht:»Meine Monatsrente ist eine Goldmark wert.«Zwischen zwei anderen Wagen flattert eine weiße Fahne:»Unsere Kinder haben keine Milch, kein Fleisch, keine Butter. Haben wir dafür gekämpft?«

Es sind die traurigsten Opfer der Inflation. Ihre Renten sind so entwertet, daß sie kaum noch etwas damit anfangen können. Ab und zu werden ihre Bezüge von der Regierung erhöht – viel zu spät, denn am Tage der Erhöhung sind sie schon wieder um ein Vielfaches zu niedrig. Der Dollar ist zu wild geworden; er springt jetzt nicht mehr um Tausende und Zehntausende, sondern um Hunderttausende täglich. Vorgestern stand er auf einer Million zweihunderttausend – gestern auf einer Million vierhunderttausend. Morgen erwartet man ihn auf zwei Millionen – und am Ende des Monats auf zehn. Die Arbeiter bekommen jetzt zweimal am Tage Geld – morgens und nachmittags -, und jedesmal eine halbe Stunde Pause, damit sie losrennen und einkaufen können; denn wenn sie bis nachmittags damit warten, haben sie schon soviel verloren, daß ihre Kinder nicht halb mehr satt werden. Satt – nicht gut genährt. Satt mit allem, was man in den Magen stopfen kann – nicht mit dem, was der Körper braucht.

Der Zug ist viel langsamer als alle anderen Demonstrationszüge. Hinter ihm stauen sich die Autos der Sonntagsausflügler. Es ist ein sonderbarer Kontrast – die graue, fast anonyme Masse der schweigend sich dahinschleppenden Kriegsopfer, und dahinter die zurückgestauten Autos der Kriegsgewinnler, murrend, fauchend, ungeduldig, dicht auf den Fersen der Kriegerwitwen, die mit ihren Kindern den Schluß des Zuges bilden, dünn, verhungert, verhärmt und ängstlich. In den Autos prangen die Farben des Sommers, Leinen, Seide, volle Wangen, runde Arme und Gesichter, die verlegen sind, weil sie in diese unangenehme Situation geraten sind. Die Fußgänger auf den Trottoirs sind besser dran; sie schauen einfach weg und zerren ihre Kinder mit, die stehenbleiben und die Verstümmelten erklärt haben wollen. Wer kann, verschwindet durch die Seitenstraßen.

Die Sonne steht hoch, es ist heiß, und die Verwundeten fangen an zu schwitzen. Es ist der ungesunde käsige Schweiß der Blutarmen, der ihnen über die Gesichter rinnt. Hinter ihnen plärrt plötzlich eine Hupe. Jemand hat es nicht ausgehalten; er glaubt, er müsse einige Minuten sparen, und versucht deshalb, halb auf dem Trottoir vorbeizufahren. Alle Verwundeten drehen sich um. Keiner sagt etwas, aber sie ziehen sich auseinander und sperren die Straße. Das Auto müßte sie überfahren, wenn es passieren wollte. Ein junger Mann in einem hellen Anzug, mit einem Strohhut, sitzt mit einem Mädchen darin. Er macht ein paar albernverlegene Gesten und zündet sich eine Zigarette an. Jeder der Verletzten, der an ihm vorbeikommt, sieht ihn an. Nicht aus Vorwurf – er sieht nach der Zigarette, deren würziger Duft über die Straße treibt. Es ist eine sehr gute Zigarette, und keiner der Verwundeten kann sich oft erlauben, überhaupt noch zu rauchen. Deshalb schnuppern sie wenigstens, soviel sie können.

Ich folge dem Zug bis zur Marienkirche. Dort stehen zwei Nationalsozialisten in Uniform mit einem großen Schild:»Kommt zu uns, Kameraden! Adolf Hitler wird Euch helfen!«Der Zug zieht um die Kirche herum.

Wir sitzen in der Roten Mühle. Eine Flasche Champagner steht vor uns. Sie kostet zwei Millionen Mark – soviel wie ein Beinamputierter mit Familie in zwei Monaten an Rente erhält. Riesenfeld hat sie bestellt.

Er sitzt so, daß er die Tanzfläche voll übersehen kann.

»Ich wußte es von Anfang an«, erklärt er mir.»Wollte nur mal sehen, wie ihr mich anschwindeln würdet. Aristokratinnen wohnen nicht gegenüber von kleinen Grabsteingeschäften und nicht in solchen Häusern!«

»Das ist ein erstaunlicher Trugschluß für einen Weltmann wie Sie«, erwidere ich.»Sie sollten wissen, daß Aristokraten fast nur noch so wohnen. Die Inflation hat dafür gesorgt. Es ist aus mit den Palästen, Herr Riesenfeld. Und wenn jemand noch einen hat, vermietet er Zimmer darin. Das ererbte Geld ist dahingeschwunden. Königliche Hoheiten wohnen in möblierten Zimmern, säbelrasselnde Obersten sind zähneknirschend Versicherungsagenten geworden, Gräfinnen -«

»Genug!«unterbricht mich Riesenfeld.»Mir kommen die Tränen! Weitere Aufklärungen sind unnötig. Aber die Sache mit Frau Watzek habe ich immer gewußt. Es hat mich nur amüsiert, euch bei euren plumpen Schwindelversuchen zuzusehen.«

Er schaut hinter Lisa her, die mit Georg einen Foxtrott tanzt. Ich vermeide es, den Odenwald-Casanova daran zu erinnern, daß er Lisa als Französin mit dem Gang eines vollschlanken Panthers klassifiziert hat – es würde den sofortigen Abbruch unserer Beziehungen bedeuten, und wir brauchen dringend Granit.

»Übrigens tut das dem Ganzen keinen Abbruch«, erklärt Riesenfeld versöhnlich.»Ist im Gegenteil noch höher anzusetzen! Diese Rasse, ganz aus dem Volke! Sehen Sie nur, wie sie tanzt! Wie ein – ein -«

»Ein vollschlanker Panther«, half ich aus.

Riesenfeld schielt mich an.»Manchmal verstehen Sie ein bißchen von Frauen«, knurrt er.

»Gelernt – von Ihnen!«

Er prostet mir zu, ahnungslos geschmeichelt.»Ich möchte gern eines von Ihnen wissen«, sage ich.»Ich habe das Gefühl, daß Sie zu Hause im Odenwald ein erstklassiger, ruhiger Bürger und Familienvater sind – Sie haben uns ja vorhin die Fotos Ihrer drei Kinder und Ihres rosenumblühten Hauses gezeigt, zu dessen Mauern Sie aus Prinzip kein Stück Granit verwendet haben, was ich, als verkrachter Poet, Ihnen hoch anrechne -, warum verwandeln Sie sich dann draußen in einen solchen König der Nachtklubs?«

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