»Das ist das Elend! Wir sind alle zu intim mit ihm geworden. Gott war immer der Duzbruder aller Kaiser, Generäle und Politiker. Dabei sollten wir uns fürchten, seinen Namen zu nennen. Aber ich gehe nicht beten, nur Orgel spielen. Kommen Sie mit!«
Riesenfeld winkt ab. Ich kann jetzt nichts weiter mehr tun. Georg muß sich selber helfen. Ich kann nur noch gehen – vielleicht gehen die andern beiden dann auch. Um Heinrich habe ich keine Sorge; Riesenfeld wird ihn schon loswerden.
Die Stadt ist taufrisch. Ich habe noch über zwei Stunden Zeit bis zur Messe. Langsam gehe ich durch die Straßen. Es ist ein ungewohntes Erlebnis. Der Wind ist milde und so sanft, als wäre der Dollar gestern um zweihundertfünfzigtausend Mark gefallen und nicht gestiegen. Eine Zeitlang starre ich in den friedlichen Fluß; dann in das Schaufenster der Firma Bock und Söhne, die Senf produziert und ihn in Miniaturfäßchen ausstellt.
Ein Schlag auf die Schulter weckt mich auf. Hinter mir steht mit verquollenen Augen ein langer, dünner Mann. Es ist die Brunnenpest Herbert Scherz. Ich blicke ihn mißvergnügt an.»Guten Morgen oder guten Abend?«frage ich.»Sind Sie vor oder nach dem Schlaf?«
Herbert stößt geräuschvoll auf. Eine scharfe Wolke treibt mir fast die Tränen in die Augen.»Gut; also noch vor dem Schlaf«, sage ich.»Schämen Sie sich nicht? Was war der Grund? Scherz, Ernst, Ironie oder einfache Verzweiflung?«
»Ein Stiftungsfest«, sagt Herbert.
Ich mache ungern Witze mit Namen; aber Herbert tut man damit einen Gefallen.»Scherz beiseite!«sage ich.
»Stiftungsfest«, wiederholt Herbert selbstgefällig.»Mein Einstand als neues Mitglied in einem Verein. Mußte den Vorstand freihalten.«Er sieht mich eine Weile an und stößt dann triumphierend hervor:»Schützenverein Alte Kameraden! Verstehen Sie?«
Ich verstehe. Herbert Scherz ist ein Vereinssammler. Andere Leute sammeln Briefmarken oder Kriegsandenken – Herbert sammelt Vereine. Er ist bereits Mitglied in über einem Dutzend – nicht weil er soviel Unterhaltung braucht, sondern weil er ein leidenschaftlicher Anhänger des Todes und des dabei gezeigten Pomps ist. Er hat sich darauf kapriziert, einmal das pompöseste Begräbnis der Stadt haben zu wollen. Da er nicht genügend Geld dafür hinterlassen kann und niemand sonst es bezahlen würde, ist er auf die Idee gekommen, allen möglichen Vereinen beizutreten. Er weiß, daß Vereine beim Tode eines Mitglieds einen Kranz mit Schleife stiften, und das ist sein erstes Ziel. Außerdem aber geht immer auch eine Abordnung mit der Vereinsfahne hinter dem Sarge her, und darauf vertraut er ebenfalls. Er hat ausgerechnet, daß er jetzt schon durch seine Mitgliedschaft mit zwei Wagen Kränzen rechnen kann, und das ist noch lange nicht das Ende. Er ist knapp sechzig und hat noch eine schöne Zeit vor sich, anderen Vereinen beizutreten. Selbstverständlich ist er in Bodo Ledderhoses Gesangverein, ohne je eine Note gesungen zu haben. Eivist dort sympathisierendes, inaktives Mitglied, ebenso wie im Schachklub Springerheil, im Kegelklub Alle Neune und im Aquarienklub und Terrarienverein Pterophyllum scalare. In den Aquarienklub habe ich ihn hineingebracht, weil ich glaubte, er würde dafür im voraus sein Denkmal bei uns bestellen. Er hat es nicht getan. Jetzt also hat er es geschafft, auch in einen Schützenverein zu kommen.
»Waren Sie denn je Soldat?«frage ich.
»Wozu? Ich bin Mitglied, das genügt. Ein Hauptschlag, was? Wenn Schwarzkopf das erfährt, wird er sich krümmen vor Wut.«
Schwarzkopf ist Herberts Konkurrent. Er hat vor zwei Jahren von Herberts Leidenschaft erfahren und aus Witz erklärt, ihm Konkurrenz machen zu wollen. Scherz hatte das damals so ernst genommen, daß Schwarzkopf voll Vergnügen tatsächlich ein paar Vereinen beitrat, um Herberts Reaktion zu beobachten. Mit der Zeit aber geriet er in sein eigenes Netz, er fand Freude an dem Gedanken, und jetzt ist er selbst ein Sammler geworden – nicht ganz so offen wie Scherz, aber heimlich und von hinten herum, eine Schmutz-Konkurrenz, die Scherz viel Sorge macht.
»Schwarzkopf krümmt sich nicht so leicht«, sage ich, um Herbert zu reizen.
»Er muß! Es ist diesmal nicht nur der Kranz und die Vereinsfahne – es sind auch die Vereinsbrüder in Uniform -«
»Uniformen sind verboten«, sage ich milde.»Wir haben den Krieg verloren, Herr Scherz, haben Sie das übersehen? Sie hätten in einen Polizistenverein eintreten sollen; da sind Uniformen noch erlaubt.«
Ich sehe, daß Scherz die Polizistenidee im Geiste notiert, und werde nicht überrascht sein, wenn er in ein paar Monaten im Schupoklub»Zur treuen Handfessel«als stilles Mitglied erscheinen wird. Im Augenblick lehnt er erst einmal meine Zweifel ab.»Bis ich sterbe, ist Uniformtragen längst wieder erlaubt! Wo blieben sonst die vaterländischen Belange? Man kann uns nicht für immer versklaven!«
Ich sehe in das verschwollene Gesicht mit den geplatzten Äderchen. Sonderbar, wie verschieden die Ideen über Sklaverei sind! Ich finde, ich kam ihr am nächsten als Rekrut in Uniform.»Außerdem«, sage ich,»wird man beim Tode eines Zivilisten zweifellos nicht in Wichs mit Säbeln, Helm und Präservativ antreten. So was ist nur für aktive Militärhengste.«
»Für mich auch! Es ist mir diese Nacht ausdrücklich zugesagt worden! Vom Präsidenten persönlich!«
»Zugesagt! Was wird einem im Suff nicht alles zugesagt!«
Herbert scheint mich nicht gehört zu haben.»Nicht allein das«, flüstert er in dämonischem Triumph.»Dazu kommt noch das Größte: die Ehrensalve über dem Grab!«
Ich lache in sein übernächtigtes Gesicht.»Eine Salve? Womit? Mit Selters Wasserflaschen? Waffen sind auch verboten in unserem geliebten Vaterlande! Versailler Vertrag, Herr Scherz. Die Ehrensalve ist ein Wunschtraum, den Sie begraben können!«
Aber Herbert ist nicht zu erschüttern. Er schüttelt schlau den Kopf.»Haben Sie eine Ahnung! Wir haben längst wieder eine geheime Armee! Schwarze Reichswehr.«Er kichert.»Ich kriege meine Salve! In ein paar Jahren haben wir sowieso alles wieder. Allgemeine Wehrpflicht und Armee. Wie sollten wir sonst leben?«
Der Wind bringt einen würzigen Senfgeruch um die Ecke, und der Fluß wirft plötzlich Silber von unten über die Straße. Die Sonne ist aufgegangen. Scherz niest.»Schwarzkopf ist endgültig geschlagen«, sagt er selbstzufrieden.
»Der Präsident hat mir versprochen, daß er nie in den Verein reingelassen wird.«
»Er kann in einen Verein ehemaliger schwerer Artillerie eintreten«, erwidere ich.»Dann wird über seinem Grab mit Kanonen geschossen.«
Scherz zuckt einen Moment nervös mit dem rechten Auge. Dann winkt er ab.»Das sind Witze. Es gibt nur den einen Schützenverein in der Stadt. Nein, Schwarzkopf ist fertig. Ich komme morgen einmal bei Ihnen vorbei, Denkmäler ansehen. Irgendwann muß ich mich ja doch mal entscheiden.«
Er entscheidet sich schon, seit ich im Geschäft bin. Das hat ihm den Namen Brunnenpest eingetragen. Er ist eine ewige Frau Niebuhr und wandert von uns zu Hollmann und Klotz und von da weiter zu Steinmeyer und läßt sich überall alles zeigen und handelt für Stunden und kauft trotzdem nichts. Wir sind solche Typen gewöhnt; es gibt immer wieder Leute, meistens Frauen, die eine sonderbare Lust dabei empfinden, zu Lebzeiten ihren Sarg, ihr Sterbehemd, ihre Grabstätte und ihr Denkmal zu bestellen – aber Herbert hat es darin zur Weltmeisterschaft gebracht. Seine Grabstelle hat er endlich vor sechs Monaten gekauft. Sie ist sandig, hochgelegen, trocken und hat eine schöne Aussicht. Herbert wird langsamer und etwas ordentlicher darin verwesen als in den niedriger gelegenen, feuchten Teilen des Friedhofs, und er ist stolz darauf. Jeden Sonntagnachmittag verbringt er dort mit einer Thermosflasche Kaffee, einem Klappsessel und einem Paket Streuselkuchen genießerische Stunden und beobachtet, wie der Efeu wächst. Den Denkmalsauftrag aber läßt er immer noch vor den Mäulern der Grabsteinfirmen pendeln wie ein Reiter die Karotte vor der Schnauze seines Esels. Wir galoppieren, aber wir erwischen sie nie. Herbert kann sich nicht entscheiden. Er hat immer Angst, irgendeine fabelhafte Neuerung zu verpassen, wie elektrische Klingeln zum Sarg, Telefon oder so was.