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»Wirklich?«

»Natürlich! Wo blieben sonst wir Buchhändler?«

Arthur saust wieder davon. Ein Mann mit kurzgestutztem Schnurrbart verlangt das Werk»Im Felde unbesiegt«.

Es ist der große Schlager der Nachkriegszeit. Ein arbeitsloser General beweist darin, daß das deutsche Heer im Kriege bis zum Ende siegreich war.

Arthur verkauft die Geschenkausgabe in Leder mit Goldschnitt. Besänftigt durch das gute Geschäft kommt er zurück.»Wie wär’s mit etwas Klassischem? Antiquarisch natürlich!«

Ich schüttle den Kopf und zeige wortlos ein Buch vor, das ich inzwischen auf dem Auslagetisch gefunden habe. Es ist»Der Mann von Welt«, ein Brevier für gute Manieren in allen Lebenslagen. Geduldig erwarte ich die unumgänglichen schalen Witze über Fakir-Kavaliere und so ähnliches. Aber Arthur witzelt nicht.»Nützliches Buch«, erklärt er sachlich.»Sollte in Massenauflage erscheinen. Also gut, dann sind wir quitt, was?«

»Noch nicht. Ich habe noch etwas zugut.«Ich hebe einen dünnen Band hoch.»Das Gastmahl«von Plato.»Das kommt noch dazu.«

Arthur rechnet im Kopf.»Stimmt nicht ganz, aber meinetwegen. Rechnen wir „Das Gastmahl“ antiquarisch.«

Ich lasse mir das Brevier für gute Manieren in Papier einschlagen und mit Bindfaden verknoten. Ich möchte um nichts in der Welt damit von jemand erwischt werden. Trotzdem beschließe ich, es heute abend zu studieren. Etwas Schliff kann niemand schaden, und Ernas Beschimpfungen sitzen mir noch in den Knochen. Der Krieg hat uns ziemlich verwildert, und flegelige Manieren kann man sich heute nur noch leisten, wenn eine dicke Brieftasche sie zudeckt. Die aber habe ich nicht.

Zufrieden trete ich auf die Straße. Lärmend dringt draußen das Dasein sofort auf mich ein. In einem brandroten Kabriolett saust Willy an mir vorüber, ohne mich zu sehen. Ich presse das Brevier für Weltleute fest unter den Arm. Rein ins Leben! denke ich. Hoch die irdische Liebe! Fort mit den Träumen! Fort mit den Gespenstern! Das gilt für Erna sowohl als auch für Isabelle. Für meine Seele habe ich ja immer noch den Plato.

Der Altstädter Hof ist eine Kneipe, in der wandernde Artisten, Zigeuner und Fuhrleute verkehren. Im ersten Stock gibt es ein Dutzend Zimmer zu vermieten, und im Hinterhaus befindet sich ein großer Saal mit einem Klavier und einer Anzahl Turngeräten, in dem die Artisten ihre Nummern üben können. Das Hauptgeschäft aber ist die Kneipe. Sie gilt nicht nur als Treffpunkt der Wanderer vom Variete; auch die Unterwelt der Stadt verkehrt hier.

Ich öffne die Tür zum hinteren Saal. Am Klavier steht Renée de la Tour und übt ein Duett. Im Hintergrund dressiert ein Mann zwei weiße Spitze und einen Pudel. Zwei kräftige Frauen liegen auf einer Matte und rauchen, und am Trapez, die Füße zwischen die Hände unter die Stange gesteckt, den Rücken durchgedrückt, schwingt Gerda auf mich los wie eine fliegende Galionsfigur.

Die beiden kräftigen Frauen sind im Badeanzug. Sie räkeln sich, und ihre Muskeln spielen. Es sind ohne Zweifel die Ringkämpferinnen vom Programm des Altstädter Hofes. Renée brüllt mir mit erstklassiger Kommandostimme guten Abend zu und kommt zu mir herüber. Der Dresseur pfeift. Die Hunde schlagen Saltos. Gerda saust gleichmäßig auf dem Trapez hin und zurück und erinnert mich an den Augenblick, als sie mich in der Roten Mühle zwischen ihren Beinen hindurch ansah. Sie trägt ein schwarzes Trikot und um das Haar ein festgeknotetes rotes Tuch.

»Sie übt«, erklärt Renée.»Sie will zum Zirkus zurück.«

»Zum Zirkus?«Ich sehe Gerda mit neuem Interesse an.

»War sie schon einmal beim Zirkus?«

»Natürlich. Da ist sie ja groß geworden. Aber der Zirkus ist pleite gegangen. Konnte das Fleisch für die Löwen nicht mehr bezahlen.«

»War sie mit den Löwen?«

Renée lacht wie ein Feldwebel und sieht mich spöttisch an.»Das wäre aufregend, was? Nein, sie war Akrobatin.«

Gerda saust wieder über uns hin. Mit starren Augen sieht sie mich an, als wolle sie mich hypnotisieren. Sie meint mich aber gar nicht; sie starrt nur vor Anstrengung.

»Ist Willy eigentlich reich?«fragt Renée de la Tour.

»Ich glaube schon. Was man heute so reich nennt. Er hat Geschäfte und einen Haufen Aktien, die jeden Tag steigen. Warum?«

»Ich habe es gern, wenn Männer reich sind.«Renée lacht mit ihrem Sopran.»Jede Dame hat das gern«, brüllt sie dann wie auf dem Kasernenhof.

»Das habe ich gemerkt«, erkläre ich bitter.»Ein reicher Schieber ist besser als ein ehrenhafter ärmerer Angestellter.«

Renée schüttelt sich vor Lachen.»Reich und ehrlich geht nicht zusammen, Baby! Heute nicht! Wahrscheinlich früher auch nie.«

»Höchstens, wenn man erbt oder das große Los gewinnt.«

»Auch dann nicht. Geld verdirbt den Charakter, wissen Sie das noch nicht?«

»Das weiß ich. Aber weshalb legen Sie soviel Wert darauf?«

»Weil ich mir aus Charakter nichts mache«, zirpte Renée mit einer zimperlichen Altjungfernstimme.»Ich liebe Komfort und Sicherheit.«

Gerda saust mit einem perfekten Salto auf uns zu. Sie kommt einen halben Meter vor mir zum Stehen, wippt ein paarmal auf den Zehen hin und her und lacht.»Renée lügt«, sagt sie.

»Hast du gehört, was sie erzählt hat?«

»Jede Frau lügt«, sagt Renée mit Engelsstimme.»Und wenn sie nicht lügt, ist sie nichts wert.«

»Amen«, erwidert der Hundedresseur.

Gerda streicht die Haare zurück.»Ich bin hier fertig. Warte, bis ich mich umgezogen habe.«

Sie geht zu einer Tür, an der ein Schild mit der Aufschrift»Garderobe«hängt. Renée sieht ihr nach.»Sie ist hübsch«, erklärt sie sachlich.»Schauen Sie, wie sie sich hält. Sie geht richtig, das ist die Hauptsache bei einer Frau. Hintern rein, nicht raus. Akrobaten lernen das.«

»Das habe ich schon einmal gehört«, sage ich.»Von einem Frauen- und Granitkenner. Wie geht man richtig?«

»Wenn man das Gefühl hat, mit dem Hintern ein Fünfmarkstück festzuhalten – und es dann vergißt.«

Ich versuche, mir das vorzustellen. Ich kann es nicht; ich habe seit zu langer Zeit kein Fünfmarkstück mehr gesehen. Aber ich kenne eine Frau, die auf diese Weise einen mittleren Nagel aus der Wand reißen kann. Es ist Frau Beckmann, die Freundin des Schusters Karl Brill. Sie ist ein mächtiges Weib, völlig aus Eisen. Karl Brill hat schon manche Wette mit ihr gewonnen, und ich habe ihre Kunst selbst bewundert. Ein Nagel wird in die Wand der Werkstatt eingeschlagen, nicht allzutief natürlich, aber so, daß es eines tüchtigen Ruckes mit der Hand bedürfte, ihn herauszureißen. Dann wird Frau Beckmann geweckt. Sie erscheint unter den Trinkern in der Werkstatt im leichten Morgenrock, ernst, nüchtern und sachlich. Ein bißchen Watte wird um den Nagelkopf gewunden, damit sie sich nicht verletzen kann, dann stellt sich Frau Beckmann hinter einen niedrigen Paravant, mit dem Rücken zur Wand, leicht gebückt, den Morgenrock züchtig umgeschlagen, die Hände auf den Paravant gelegt. Sie manövriert etwas, um den Nagel mit ihren Schinken zu fassen, strafft sich plötzlich, richtet sich auf, entspannt – und der Nagel fällt auf den Boden. Etwas Kalkstaub rieselt gewöhnlich hinterher. Frau Beckmann, wortlos, ohne ein Zeichen von Triumph, dreht sich um, entschwindet die Treppe hinauf, und Karl Brill kassiert von den erstaunten Kegelbrüdern die Wetten ein. Es ist eine streng sportliche Sache; niemand sieht Frau Beckmanns Formen anders als von der rein fachlichen Seite. Und niemand wagt ein loses Wort darüber. Sie würde ihm eine Ohrfeige kleben, die ihm den Kopf losrisse. Sie ist riesenstark; die beiden Ringerinnen sind blutarme Kinder gegen sie.

»Also, machen Sie Gerda glücklich«, sagt Renée lakonisch.

»Für vierzehn Tage. Einfach, was?«

Ich stehe etwas verlegen da. Das Vademekum für guten Ton sieht diese Situation sicher nicht vor. Zum Glück erscheint Willy. Er ist elegant gekleidet, hat einen leichten grauen Borsalino schief auf dem Kopf und wirkt trotzdem wie ein Zementblock, der mit künstlichen Blumen besteckt ist. Mit vornehmer Geste küßt er Renée die Hand; dann greift er in seine Tasche und bringt ein kleines Etui hervor.»Der interessantesten Frau in Werdenbrück«, erklärt er mit einer Verbeugung.

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