Ich nicke und hole wortlos meinen Hut. Georg hat mich, ohne es zu merken, schwer angeschlagen – aber der Teufel soll mich holen, wenn ich es ihn merken lasse.
Als ich zurückkomme, sitzt Gerda Schneider im Büro. Sie trägt einen grünen Sweater, einen kurzen Rock und große Ohrringe mit falschen Steinen. An die linke Seite des Sweaters hat sie eine der Blumen aus Riesenfelds Bukett gesteckt, das außerordentlich dauerhaft gewesen sein muß. Sie deutet darauf und sagt: »Merci! Alles war neidisch. Das war ein Busch für eine Primadonna.«
Ich sehe sie an. Da sitzt wahrscheinlich genau das, was Georg unter irdischer Liebe versteht, denke ich – klar, fest, jung und ohne Phrasen. Ich habe ihr Blumen geschickt, und sie ist gekommen, basta. Sie hat die Blumen so aufgefaßt, wie ein vernünftiger Mensch es tun sollte. Anstatt langes Theater zu machen, ist sie da. Sie hat akzeptiert, und jetzt ist eigentlich nichts mehr zu besprechen.
»Was machst du heute nachmittag?«fragt sie.
»Ich arbeite bis fünf. Dann gebe ich einem Idioten eine Nachhilfestunde.«
»Worin? In Idiotie?«
Ich grinse.»Wenn man es richtig ansieht, ja.«
»Das wäre bis sechs. Komm nachher in den Altstädter Hof. Ich trainiere da.«
»Gut«, sage ich, bevor ich nachdenke.
Gerda steht auf.»Also dann -«
Sie hält mir ihr Gesicht hin. Ich bin überrascht. So viel hatte ich mit meiner Blumensendung gar nicht beabsichtigt. Aber warum eigentlich nicht? Georg hat wahrscheinlich recht: Liebesschmerz soll man nicht mit Philosophie bekämpfen – nur mit einer anderen Frau. Vorsichtig küsse ich Gerda auf die Wange.»Dummkopf!«sagt sie und küßt mich herzhaft auf den Mund.»Reisende Artisten haben nicht viel Zeit übrig für Firlefanz. In zwei Wochen muß ich weiter. Also bis heute abend.«
Sie geht aufrecht mit ihren festen, kräftigen Beinen und den kräftigen Schultern hinaus. Auf dem Kopf trägt sie eine rote Baskenmütze. Sie scheint Farben zu lieben. Draußen bleibt sie neben dem Obelisken stehen und blickt auf unser Golgatha.»Das ist unser Lager«, sage ich.
Sie nickt.»Bringt es was ein?«
»So so – in diesen Zeiten -«
»Und du bist hier angestellt?«
»Ja. Komisch, was?«
»Nichts ist komisch«, sagt Gerda.»Was sollte ich sonst sagen, wenn ich in der Roten Mühle meinen Kopf von rückwärts durch die Beine stecke? Glaubst du, Gott hätte das gewollt, als er mich erschuf? Also bis sechs.«
Die alte Frau Kroll kommt mit einer Gießkanne aus dem Garten.»Das ist ein ordentliches Mädchen«, sagt sie und blickt Gerda nach.»Was ist sie?«
»Akrobatin.«
»So, Akrobatin!«erwidert sie überrascht.»Akrobatinnen sind meistens ordentliche Menschen. Sie ist keine Sängerin, was?«
»Nein. Eine richtige Akrobatin. Mit Saltos, Handständen und Verrenkungen wie ein Schlangenmensch.«
»Sie kennen sie ja ziemlich genau. Wollte sie etwas kaufen?«
»Noch nicht.«
Sie lacht. Ihre Brillengläser glitzern.»Mein lieber Ludwig«, sagt sie.»Sie glauben nicht, wie närrisch Ihnen Ihr jetziges Leben einmal vorkommen wird, wenn Sie siebzig sind.«
»Dessen bin ich noch gar nicht so sicher«, erkläre ich.»Es kommt mir nämlich gerade jetzt schon ziemlich närrisch vor. Was halten Sie übrigens von der Liebe?«
»Wovon?«
»Von der Liebe. Der himmlischen und der irdischen Liebe.«
Frau Kroll lacht herzlich.»Das habe ich längst vergessen. Gott sei Dank!«
Ich stehe in der Buchhandlung Arthur Bauers. Heute ist der Zahlungstag für die Nachhilfestunden, die ich seinem Sohn erteile. Arthur junior hat die Gelegenheit benützt, mir zur Begrüßung ein paar Heftzwecken auf meinen Stuhl zu legen. Ich hätte ihm dafür gerne sein Schafsgesicht in das Goldfischglas getunkt, das den Plüschsalon ziert, aber ich mußte mich beherrschen – Arthur junior weiß das.
»Also Yoga«, sagt Arthur senior jovial und schiebt mir einen Packen Bücher zu.»Ich habe Ihnen hier herausgelegt, was wir haben. Yoga, Buddhismus, Askese, Nabelschau – wollen Sie Fakir werden?«
Ich mustere ihn mißbilligend. Er ist klein, hat einen Spitzbart und flinke Augen. Noch ein Schütze heute, denke ich, der auf mein ramponiertes Herz anlegt! Aber dich billige Spottdrossel werde ich schon kriegen, du bist kein Georg! Scharf sage ich:»Was ist der Sinn des Lebens, Herr Bauer?«
Arthur sieht mich erwartungsvoll wie ein Pudel an.»Und?«
»Was, und?«
»Wo ist die Pointe? Sie erzählen doch einen Witz – oder nicht?«
»Nein«, erwidere ich kühl.»Dies ist eine Rundfrage zum Heile meiner jungen Seele. Ich stelle sie vielen Menschen, besonders solchen, die es wissen sollten.«
Arthur greift in seinen Bart wie in eine Harfe.»Sie fragen doch nicht im Ernst, an einem Montagnachmittag, mitten in der Hauptgeschäftszeit, so etwas Blödsinniges, und wollen auch noch eine Antwort darauf haben?«
»Doch«, sage ich.»Aber bekennen Sie nur gleich! Sie wissen es auch nicht! Sie, trotz aller Ihrer Bücher!«
Arthur gibt seinen Bart frei, um sich in den Locken zu wühlen.»Herrgott, was manche Menschen für Sorgen haben! Erörtern Sie die Sache doch in Ihrem Dichterklub!«
»Im Dichterklub gibt es nur poetische Verbrämungen dafür. Ich aber will die Wahrheit wissen. Wozu existiere ich sonst und bin kein Wurm?«
»Wahrheit!«Arthur meckert.»Das ist was für Pilatus! Mich geht das nichts an. Ich bin Buchhändler, Gatte und Vater, das genügt mir.«
Ich sehe den Buchhändler, Gatten und Vater an. Er hat einen Pickel rechts neben der Nase.»So, das genügt Ihnen«, sage ich schneidend.
»Das genügt«, erwidert Arthur fest.»Manchmal ist es schon zu viel.«
»Genügte es Ihnen auch, als Sie fünfundzwanzig Jahre alt waren?«
Arthur öffnet seine blauen Augen, so weit er kann.»Mit fünfundzwanzig? Nein. Damals wollte ich es noch werden.«
»Was?«frage ich hoffnungsvoll.»Ein Mensch?«
»Besitzer dieser Buchhandlung, Gatte und Vater. Mensch bin ich sowieso. Fakir noch nicht.«
Er schwänzelt nach diesem harmlosen zweiten Schuß eilig davon, einer Dame mit reichem Hängebusen entgegen, die einen Roman von Rudolf Herzog verlangt. Ich blättere flüchtig in den Büchern über das Glück der Askese und lege sie rasch beiseite. Tagsüber ist man zu diesen Dingen bedeutend weniger aufgelegt als nachts, allein, wenn einem nichts anderes übrigbleibt.
Ich gehe zu den Regalen mit den Werken über Religion und Philosophie. Sie sind Arthur Bauers Stolz. Er hat hier so ziemlich alles, was die Menschheit in ein paar tausend Jahren über den Sinn des Lebens zusammengedacht hat. Es müßte also möglich sein, für ein paar hunderttausend Mark ausreichend darüber informiert zu werden – eigentlich bereits für weniger, sagen wir für zwanzig- bis dreißigtausend Mark; denn wenn der Sinn des Lebens erkennbar wäre, sollte schon ein einziges Buch dazu genügen. Aber wo ist es? Ich blicke die Reihen hinauf und hinab. Die Abteilung ist sehr umfangreich, und das macht mich plötzlich stutzig. Es scheint mit der Wahrheit und dem Sinn des Lebens so zu sein, wie mit den Haarwässern – jede Firma preist ihres als das alleinseligmachende an – aber Georg Kroll, der sie alle probiert hat, hat trotzdem einen kahlen Kopf behalten, und er hätte es von Anfang an wissen sollen. Wenn es ein Haarwasser gäbe, das wirklich Haar wachsen ließe, gäbe es nur das eine, und die anderen wären längst pleite.
Bauer kommt zurück.»Na, was gefunden?«
»Nein.«
Er betrachtet die beiseite geschobenen Bände.»Also Fakir hat keinen Zweck, was?«
Ich weise den schlichten Witzbold nicht direkt zurecht.
»Bücher haben überhaupt keinen Zweck«, sage ich statt dessen.»Wenn man sieht, was hier alles geschrieben ist und wie es trotzdem in der Welt aussieht, sollte man nur noch die Speisekarte, im Walhalla und die Familiennachrichten im Tageblatt lesen.«
»Wieso?«fragt der Buchhändler, Gatte und Vater leicht erschreckt.»Lesen bildet, das weiß jeder.«