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»Auf keinen Fall.«

»Richtig! Sie riskieren nämlich außerdem, daß Ihnen sofort die Einreise gesperrt wird – auf ein Jahr, drei Jahre, fünf und mehr, je nachdem. Wenn Sie danach erwischt werden, gibt es Gefängnis.«

»Das weiß ich«, sagte Kern.»Wie überall.«

»Gut. Sie schieben das hinaus, wenn Sie illegal bleiben. Natürlich nur, bis Sie zum erstenmal erwischt werden. Das ist Geschicklichkeits- und Glückssache.«

Kern nickte.»Wie steht es mit Arbeitsmöglichkeiten?«

Binder lachte.»Ausgeschlossen. Die Schweiz ist ein kleines Land und hat selbst genug Arbeitslose.«

»Also das Übliche: legal oder illegal verhungern oder gegen die Gesetze verstoßen.«

»Exakt!«erwiderte Binder glatt und gewandt.»Nun zur Frage der Zonen. Zürich ist sehr heiß. Sehr eifrige Polizei. In Zivil, das ist das Unangenehme. Hier halten sich nur Routiniers. Keine Dilettanten. Gut ist augenblicklich die französische Schweiz. Genf vor allem. Sozialistische Regierung. Das Tessin ist auch nicht schlecht, aber die Städte sind zu klein. Wie arbeiten Sie? Glatt oder mit Pelle?«

»Was heißt das?«

»Das heißt, ob Sie nur versuchen, eine Unterstützung zu bekommen, oder ob Sie dasselbe tun, indem Sie etwas zu verkaufen bei sich haben.«

»Ich möchte etwas verkaufen.«

»Gefährlich. Gilt als Arbeit. Doppelt strafbar. Illegaler Aufenthalt und illegale Arbeit. Besonders, wenn Sie angezeigt werden.«

»Angezeigt?«

»Mein Lieber«, erwiderte der Fachmann Binder geduldig belehrend,»ich bin schon einmal von einem Juden angezeigt worden, der mehr Millionen hat als Sie Franken. Er war entrüstet, weil ich ihn um Geld für eine Fahrkarte nach Basel bat. Also, wenn Sie etwas verkaufen, nur kleine Sachen: Bleistifte, Schnürsenkel, Knöpfe, Radiergummi, Zahnbürsten und so etwas. Nie einen Koffer, einen Kasten, nicht einmal eine Aktentasche mitnehmen. Selbst damit sind schon Leute ’reingefallen. Alles am besten in den Taschen bei sich tragen. Das wird jetzt im Herbst leichter, weil Sie einen Mantel anziehen können. Womit handeln Sie?«

»Seife, Parfüms, Toilettewasser, Kämme, Sicherheitsnadeln und so was Ähnliches.«

»Gut. Je wertloser ein Gegenstand, desto besser ist der Verdienst. Ich selbst handle grundsätzlich nicht. Ich bin ein einfacher Unterstützungstiger. Vermeide so den Paragraphen wegen illegaler Arbeit und falle nur unter Bettelei und Landstreicherei. Wie ist es mit Adressen? Haben Sie welche?«

»Was für Adressen?«

Binder lehnte sich zurück und sah Kern erstaunt an.»Um des Himmels willen!«sagte er.»Das ist doch das wichtigste! Adressen von Leuten, an die Sie sich wenden können, natürlich. Sie können doch nicht aufs Geratewohl von Haus zu Haus laufen! Dann sind Sie ja in drei Tagen erledigt.«

Er bot Kern eine Zigarette an.»Ich werde Ihnen eine Anzahl zuverlässiger Adressen geben«, fuhr er fort.»Drei Serien – fromm jüdische, gemischte und christliche. Sie bekommen sie umsonst. Ich selbst habe für meine ersten zwanzig Franken zahlen müssen. Die Leute sind natürlich zum Teil furchtbar überlaufen; aber sie machen Ihnen wenigstens keine Schwierigkeiten.«

Er musterte Kerns Anzug.»Ihre Kleidung ist in Ordnung. Man muß in der Schweiz darauf halten. Wegen der Detektive. Wenigstens der Mantel muß gut sein; er deckt unter Umständen einen zerfetzten Anzug, der Argwohn erwecken könnte. Allerdings gibt es eine Menge Leute, die einem eine Unterstützung verweigern, wenn man noch einen Anzug trägt, den man schont und pflegt. Haben Sie eine gute Geschichte, die Sie erzählen können?«

Er sah auf und bemerkte Kerns Blick.»Mein Lieber«, sagte er,»ich weiß, was Sie jetzt denken. Ich habe es auch einmal gedacht. Aber glauben Sie mir; selbst sich im Elend zu erhalten, ist schon eine Kunst. Und die Wohltätigkeit ist eine Kuh, die wenig und schwer Milch gibt. Ich kenne Leute, die drei verschiedene Geschichten auf Lager haben, eine sentimentale, eine brutale und eine sachliche; je nachdem, was der Mann, der seine paar Franken Unterstützung ’rausrücken soll, hören will. Sie lügen, gewiß. Aber nur, weil sie müssen. Die Grundgeschichte ist immer dieselbe: Not, Flucht und Hunger.«

»Ich weiß«, erwiderte Kern.»Daran habe ich auch gar nicht gedacht. Ich war nur verblüfft, daß Sie so viel und alles so genau wissen.«

»Konzentrierte Erfahrung von drei Jahren aufmerksamsten Lebenskampfes. Ich bin gerissen, ja. Das sind wenige. Mein Bruder war es nicht. Er hat sich vor einem Jahr erschossen.«

Binders Gesicht war einen Augenblick verzerrt. Dann wurde es wieder glatt. Er stand auf.»Wenn Sie nicht wissen, wohin Sie sollen, können Sie die Nacht bei mir schlafen. Ich habe zufallig für eine Woche eine sichere Bude. Das Zimmer eines Züricher Bekannten, der auf Urlaub ist. Ich bin ab elf Uhr hier. Um zwölf ist Polizeistunde. Seien Sie vorsichtig nach zwölf. Es wimmelt dann von Detektiven auf den Straßen.«

»Die Schweiz scheint verdammt heiß zu sein«, sagte Kern.»Gott sei Dank, daß ich Sie getroffen habe. Ohne Sie wäre ich wahrscheinlich schon am ersten Tage erwischt worden. Ich danke Ihnen herzlich! Sie haben mir sehr geholfen!«

Binder wehrte ab.»Das ist doch selbstverständlich bei Leuten, die ganz unten sind. Kameraderie der Illegalen – fast wie bei Verbrechern. Jeder von uns kann morgen in der Patsche sein und auch Hilfe brauchen. Also eventuell um elf hier!«

Er bezahlte den Kaffee, gab Kern die Hand und ging sicher und elegant hinaus.

Kern wartete im Café Greif, bis es dunkel wurde. Er ließ sich einen Stadtplan geben und zeichnete sich den Weg zu Ruths Wohnung auf. Dann brach er auf und ging rasch, in einer unruhigen Spannung, die Straßen entlang. Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde, ehe er das Haus fand. Es lag in einem verwinkelten, ruhigen Stadtteil und schimmerte groß und weiß im Mondlicht. Vor der Tür blieb er stehen. Er blickte auf die breite Messingklinke, und die Spannung erlosch plötzlich. Er glaubte auf einmal nicht, daß er nur eine Treppe hinaufzugehen brauchte, um Ruth zu finden. Es war zu einfach, nach all den Monaten. Er war nicht gewohnt, daß etwas einfach war. Er starrte zu den Fenstern empor. Vielleicht war sie gar nicht im Hause. Vielleicht war sie auch schon nicht mehr in Zürich.

Er ging an dem Haus vorbei. Ein paar Ecken weiter war ein Tabakladen. Er trat ein. Eine mürrische Frau kam hinter dem Aufbau der Theke hervor. -»Ein Paket Parisiennes«, sagte Kern.

Die Frau schob das Päckchen vor ihn hin. Dann griff sie in einen Kasten unter der Theke, holte Streichhölzer hervor und legte sie auf die Zigaretten. Es waren zwei Pakete, die anein-anderklebten. Die Frau sah es, löste sie voneinander und warf eins zurück in den Kasten.»Fünfzig Rappen«, sagte sie.

Kern bezahlte.»Kann ich einmal telefonieren?«fragte er.

Die Frau nickte.»Da links in der Ecke steht der Apparat.«

Kern suchte im Telefonbuch die Nummer Neumann – es schien Hunderte von Neumanns in dieser Stadt zu geben. Endlich fand er den richtigen. Er hob den Hörer ab und nannte die Nummer. Die Frau blieb an der Theke stehen und beobachtete ihn. Kern drehte ihr ärgerlich den Rücken zu. Es dauerte lange, bis sich jemand meldete.

»Kann ich mit Fräulein Holland sprechen?«fragte er in den schwarzen Trichter hinein.

»Wer ist dort?«

»Ludwig Kern.«

Die Stimme im Telefon schwieg einen Augenblick.»Ludwig…«, sagte sie dann wie atemlos.»Du, Ludwig?«

»Ja…«Kern fühlte plötzlich sein Herz hart schlagen, als wäre es ein Hammer.»Ja, bist du es, Ruth? Ich habe deine Stimme nicht erkannt. Wir haben ja noch nie miteinander telefoniert.«

»Wo bist du denn? Von wo rufst du an?«

»Ich bin hier. In Zürich. In einem Zigarettenladen.«

»Hier?«

»Ja, in derselben Straße wie du.«

»Warum kommst du denn nicht her? Ist etwas passiert?«

»Nein, nichts. Ich bin heute angekommen. Ich dachte schon, du wärst nicht mehr da. Wo können wir uns treffen?«

»Hier! Komm her. Rasch! Weißt du das Haus? Es ist in der zweiten Etage.«

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