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»Das ist kein einfacher Geiger. Das ist viel mehr.«

»Soll ich hinaufgehen und ihm sagen, er möchte aufhören?«

»Warum?«

Kern machte eine Bewegung zur Tür. Marills Brille glänzte.»Nein. Wozu? Traurig sein kann man immer. Und Sterben ist überall. Das geht alles zusammen.«

Sie saßen und lauschten. Nach langer Zeit kam Braun aus dem Nebenzimmer.»Aus«, sagte er. ^Exitus. Sie hat nicht viel gespürt. Weiß nur, daß ein Kind da ist. Das haben wir ihr noch sagen können.«

Die drei standen auf.»Wir können sie wieder hierher bringen«, sagte Braun.»Das Zimmer nebenan wird ja gebraucht.«

Die Frau lag weiß und plötzlich schmal in der Verwüstung von blutigen Tüchern, Tupfern und Eimern und Schalen von Blut und Watte. Sie lag da mit einem fremden, strengen Gesicht, und es ging sie alles nichts mehr an. Der Arzt mit der Glatze, der sich um sie herumbewegte, wirkte wie unanständig gegen sie: fressendes, säftevolles, zermalmendes, ausscheidendes Leben neben der Ruhe der Vollendung.

»Lassen Sie sie zugedeckt«, sagte der Arzt.»Besser Sie sehen das andere nicht. War sowieso schon ein bißchen viel, nicht wahr, kleines Fräulein?«

Ruth schüttelte den Kopf.

»Sie haben sich tapfer gehalten. Nicht gemuckt. Wissen Sie, was ich jetzt könnte, Braun? Mich aufhängen, mich glatt am nächsten Fenster aufhängen!«

»Sie haben das Kind lebendig geholt; das war eine Glanzleistung.«

»Aufhängen! Verstehen Sie, ich weiß, daß wir alles getan haben, daß man machtlos dagegen ist. Trotzdem könnte ich mich aufhängen!«

Er würgte wütend, sein Gesicht über dem Kragen des blutigen Kittels war rot und fleischig.»Zwanzig Jahre mache ich das nun schon. Und jedesmal, wenn mir einer durch die Lappen geht, möchte ich mich aufhängen. Zu blödsinnig.«Er wandte sich an Kern.»Nehmen Sie mir da aus der linken Rocktasche die Zigaretten und stecken Sie mir eine in den Mund. Ja, kleines Fräulein, ich weiß, was Sie denken. So, und nun Feuer. Ich geh’ mich waschen.«Er starrte auf die Gummihandschuhe, als wären sie an allem schuld, und ging schwerfällig ins Badezimmer.

Sie trugen die Tote mit dem Bett auf den Korridor hinaus und von da in ihr Zimmer zurück. Auf dem Korridor standen ein paar Leute, die in dem großen Zimmer wohnten.»Konnte man sie denn nicht in eine Klinik bringen?«fragte eine dürre Frau, die einen Hals wie ein Truthahn hatte.

»Nein«, sagte Marill.»Sonst hätte man’s getan.«

»Und nun bleibt sie hier, die ganze Nacht? Eine Tote nebenan – wer kann da schlafen!«

»Dann bleiben Sie wach, Großmutter«, entgegnete Marill.

»Ich bin keine Großmutter«, fauchte die Frau.

»Das merkt man.«

Die Frau warf ihm einen bösen Blick zu.»Und wer macht das Zimmer sauber? Der Geruch geht ja nie heraus. Man hätte ja auch Nummer zehn drüben dafür nehmen können!«

»Sehen Sie«, sagte Marill zu Ruth,»die Frau hier ist tot. Und ihr Kind hätte sie gebraucht und ihr Mann vielleicht auch. Aber dieses unfruchtbare Plättbrett da draußen lebt. Wird wahrscheinlich steinalt zum Ärger der Mitmenschen. Das ist eines der Rätsel, hinter die man nie kommt.«

»Das Böse ist härter, es hält mehr aus«, erwiderte Ruth finster.

Marill sah sie an.»Woher wissen Sie das denn schon?«

»Das ist heute leicht zu lernen.«

Marill erwiderte nichts. Er blickte sie nur an. Die beiden Ärzte kamen.»Das Kind ist bei der Wirtin«, sagte der mit der Glatze.»Es wird abgeholt werden. Ich telefoniere gleich deswegen. Auch wegen der Frau. Kannten Sie sie näher?«

Marill schüttelte den Kopf.»Sie ist vor ein paar Tagen gekommen. Ich habe nur einmal mit ihr gesprochen.«

»Vielleicht hat sie Papiere. Die kann man dann mitgeben.«

»Ich werde nachsehen.«

Die Ärzte gingen. Marill suchte den Koffer der Toten durch. Er enthielt nur Kindersachen, ein blaues Kleid, etwas Wäsche und eine bunte Kinderklapper. Er packte die Sachen wieder ein.»Sonderbar, wie das alles plötzlich auch tot ist.«

In der Handtasche fand er einen Paß und einen Meldeschein der Polizei Frankfurt an der Oder. Er hielt sie ans Licht.»Katharina Hirschfeld, geborene Brinkmann, aus Münster, geboren am siebzehnten März neunzehnhunderteins.«

Er stand auf und sah die Tote an – die blonden Haare und das schmale, harte westfälische Gesicht.»Katharina Brinkmann, verheiratete Hirschfeld.«

Er blickte wieder in den Paß.»Noch drei Jahre gültig«, murmelte er.»Drei Jahre für einen anderen. Der Meldeschein genügt auch für ein Grab.«

Er steckte die Papiere ein.»Ich werde das erledigen«, sagte er zu Kern.»Und eine Kerze besorgen. Ich weiß nicht… man sollte ein bißchen bei ihr bleiben. Nützt zwar nichts, aber merkwürdig… ich habe so das Gefühl, man sollte ein bißchen bei ihr bleiben.«

»Ich bleibe hier«, erwiderte Ruth.

»Ich auch«, sagte Kern.

»Gut. Ich komme dann später und löse Sie ab.«

DER MOND WURDE heller. Die Nacht stieg empor und war weit und dunkelblau. Sie hauchte in das Zimmer hinein mit dem Geruch von Erde und Blüten.

Kern stand mit Ruth am Fenster. Es war ihm, als wäre er weit fort gewesen und zurückgekommen. Dunkel in ihm war noch das Entsetzen über die Schreie der Gebärenden und ihren zuckenden, blutenden Körper. Er hörte den leisen Atem des Mädchens neben sich und sah ihren sanften, jungen Mund. Er wußte plötzlich, daß auch sie dazu gehörte, zu diesem finsteren Geheimnis, das die Liebe mit einem Ring von Grauen umschloß, er ahnte, daß auch die Nacht dazugehört und die Blüten und dieser schwere Geruch nach Erde und der süße Geigenton über den Dächern, er wußte, daß, wenn er sich umwandte, im flatternden Licht der Kerze die fahle Maske des Todes ihn anstarren würde, und um so stärker fühlte er die Wärme unter seiner Haut, die ihn frösteln machte und ihn nach Wärme suchen ließ, nur nach Wärme und nach nichts als Wärme…

Eine fremde Hand nahm seine Hand und legte sie um die glatten, jungen Schultern neben ihm.

7

Marill saß auf der Zementterrasse des Hotels und fächelte sich mit einer Zeitung. Er hatte einige Bücher vor sich.»Kommen Sie her, Kern!«rief er.»Der Abend naht. Da sucht das Tier die Einsamkeit und der Mensch die Gesellschaft. Was macht die Aufenthaltserlaubnis?«

»Noch eine Woche.«Kern setzte sich zu ihm.

»Eine Woche im Gefängnis ist lang. In der Freizeit kurz.«Marill schlug auf die Bücher vor ihm.»Die Emigration bildet! Auf meine alten Tage lerne ich noch Französisch und Englisch.«

»Ich kann das Wort Emigrant manchmal nicht mehr hören«, sagte Kern verdrießlich.

Marill lachte.»Unsinn! Sie sind in der besten Gesellschaft. Dante war ein Emigrant. Schiller mußte ausreißen. Heine. Victor Hugo. Das sind nur ein paar. Sehen Sie da oben den blassen Bruder Mond – ein Emigrant der Erde. Und Mutter Erde selbst – eine alte Emigrantin der Sonne.«Er blinzelte.»Vielleicht wäre es besser gewesen, diese Emigration wäre unterblieben und wir sausten da noch als feuriges Gas herum. Oder als Sonnenflecken. Meinen Sie nicht?«-»Nein«, sagte Kern.

»Richtig.«Marill fächelte sich wieder mit der Zeitung.»Wissen Sie, was ich eben gelesen habe?«

»Daß die Juden daran schuld sind, daß es nicht regnet.«

»Nein.«

»Daß ein Granatsplitter im Bauch erst das volle Glück für den echten Mann bedeutet.«

»Auch nicht.«

»Daß die Juden deshalb alle Bolschewisten sind, weil sie so gierig Vermögen anhäufen.«

»Nicht schlecht! Weiter.«

»Daß Christus ein Arier war. Der uneheliche Sohn eines germanischen Legionärs…«

Marill lachte.»Nein, Sie werden es nicht erraten. Heiratsanzeigen. Hören Sie mal zu: Wo ist der liebe, sympathische Mann, der mich glücklich machen will? Ebensolches Fräulein, tiefinnerliches Gemüt, vornehmer, edler Charakter, mit Liebe für alles Gute und Schöne und erstklassigen Kenntnissen im Hotelfach sucht gleichgestimmte Seele zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahren in guter Position…«Er blickte auf.»Zwischen fünfunddreißig und vierzig! Einundvierzig scheidet schon aus. Das ist Glaube, was? Oder hier: Wo finde ich Dich, meine Ergänzung? Tiefschürfende Frohnatur, Lady und Hausmütterchen, mit vom Alltag unzerbrochenen Schwingen, Temperament und Geist, innerlicher Schönheit und kameradschaftlichem Verständnis wünscht sich Gentleman mit entsprechendem Einkommen, kunst- und sportliebend, der gleichzeitig ein lieber Bub sein soll. – Herrlich, wie? Oder nehmen wir dieses: Seelisch vereinsamter Fünfziger, sensitive Natur, jünger aussehend, Vollwaise…«Marill hielt inne.»Vollwaise!«wiederholte er.»Mit fünfzig! Welch bedauernswertes Geschöpf, dieser weiche Fünfziger!«

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