»Ja, gern.«Goldbach trank gehorsam.
Steiner gab ihm die Hand.»Und üben Sie nicht zu viele Tricks. Sonst finde ich vor lauter Raffinement nichts mehr.«
»Nein. Nein.«
Goldbach ging rasch die Allee hinunter zur Stadt. Er fühlte sich leicht, als wäre eine schwere Last von ihm abgefallen. Aber es war eine Leichtigkeit ohne Freude… als wären seine Knochen voll Luft und sein Wille aus Gas, nicht mehr lenkbar und jedem Winde preisgegeben.
»Ist meine Frau da?«fragte er das Mädchen an der Tür der Pension.
»Nein.«Das Mädchen fing an zu lachen.
»Weshalb lachen Sie denn?«fragte Goldbach befremdet.
»Warum soll ich nicht lachen? Ist es verboten zu lachen?«
Goldbach sah sie abwesend an.»So meine ich das nicht«, murmelte er.»Lachen Sie nur.«
Er ging den schmalen Korridor entlang in sein Zimmer und horchte nach nebenan. Er hörte nichts. Sorgfältig bürstete er seine Haare und seinen Anzug; dann klopfte er an die Verbindungstür, obschon das Mädchen gesagt hatte, seine Frau sei nicht da. Vielleicht ist sie inzwischen gekommen, dachte er. Vielleicht hat das Mädchen sie nicht gesehen. Er klopfte noch einmal. Niemand antwortete. Er drückte vorsichtig die Klinke herunter und trat ein. Das Licht am Spiegel brannte. Er starrte auf das Licht wie ein Schiffer auf einen Leuchtturm. Sie wird gleich wiederkommen, dachte er. Sonst würde das Licht nicht brennen.
Er wußte schon, irgendwo in seinen luftleichten Knochen, in dem grauen Aschengewirr seiner Adern, daß sie nicht wiederkommen würde. Er wußte es unterhalb seiner Gedanken, aber sein Kopf hielt mit dem Eigensinn der Angst wie an einem Balken, der ihn vor der Flut retten könne, an den sinnlosen Worten fest: Sie muß wiederkommen… sonst würde das Licht nicht brennen…
Dann entdeckte er die Leere des Zimmers. Die Bürsten und die Cremetöpfe vor dem Spiegel fehlten; eine Tür des Schrankes stand halb offen, und der rosa- und pastellfarbene Fleck der Kleider fehlte in der Öffnung; sie gähnte schwarz und verlassen. Nur der Geruch im Zimmer war noch da, ein Hauch Leben, aber auch schon dünner… Erinnerung und lauernder Schmerz. Dann fand er den Brief und wunderte sich stumpf, daß er ihn so lange nicht gesehen hatte – er lag mitten auf dem Tisch.
Es dauerte lange, ehe er ihn öffnete. Er wußte ohnehin alles – wozu ihn noch öffnen? Schließlich riß er ihn mit einer vergessenen Haarnadel, die neben ihm auf einem Sessel gelegen hatte, auf. Er las ihn, doch die Worte drangen nicht mehr durch die Eisschicht seines Gehirns; sie blieben tot, Worte aus einer Zeitung, einem Buch, zufällige Worte, die ihn nichts angingen. Die Haarnadel in seiner Hand war lebendiger.
Er saß ruhig da und wartete auf den Schmerz und wunderte sich, daß er nicht kam. Es war nur ein taubes Gefühl, eine ungeheure Dämpfung, wie der angstvolle Augenblick vor dem Einschlafen, wenn er eine zu große Dosis Brom genommen hatte.
Er saß lange Zeit so. Er sah seine Hände an – sie lagen wie weiße, tote Tiere auf seinen Knien; blasse, empfindungslose Kraken mit fünf schlaffen Tentakeln. Sie gehörten nicht zu ihm. Er gehörte überhaupt nicht zu sich selbst, er war der Körper eines andern, dessen Augen nach innen gerichtet waren und eine Lähmung anstarrten, die nur manchmal in sich erzitterte.
Schließlich stand er auf und ging in sein Zimmer zurück. Er sah die Krawatten auf dem Tisch liegen. Mechanisch suchte er eine Schere heraus und begann die Binder zu zerschneiden, sorgfältig, Streifen um Streifen. Er ließ die abgeschnittenen Stücke nicht auf den Boden fallen, sondern sammelte sie pedantisch in der hohlen Hand und schichtete sie auf dem Tisch zu einem bunten Häufchen. Mitten in dieser automatischen Tätigkeit überraschte er sich dabei, was er tat; er legte die Schere beiseite und hörte auf. Gleich darauf hatte er vergessen, was er getan hatte. Er ging mit steifen Schritten durch das Zimmer und setzte sich in eine Ecke. Dort blieb er hocken und rieb sich die Hände, immer wieder, mit einer sonderbar müden, greisen Bewegung, als fröre er und hätte nicht mehr die Kraft, sich wirklich zu wärmen.
14
Kern warf die letzten Streichhölzer in die Luft. Da legte sich eine Hand auf seine Schulter.»Was machen Sie denn da?«
Er zuckte zusammen, wandte sich um und sah eine Uniform.»Nichts«, stammelte er.»Entschuldigen Sie! Eine Spielerei, weiter nichts.«
Der Beamte sah ihm aufmerksam ins Gesicht. Es war nicht derselbe, der ihn bei Ammers verhaftet hatte. Kern sah rasch zum Fenster hinauf. Ruth war nicht mehr zu sehen. Sie konnte auch wohl nichts bemerkt haben; es war zu dunkel.
Kern versuchte ein treuherziges Lächeln.»Entschuldigen Sie vielmals«, sagte er leichthin.»Es war nur ein kleiner Spaß. Sie sehen sicher selbst, daß nichts dadurch geschehen konnte. Ein paar Streichhölzer, weiter nichts. Ich wollte mir eine Zigarette anzünden. Sie brannte nicht recht, da habe ich gleich ein halbes Dutzend genommen und mir fast die Finger verbrannt.«
Er lachte, schlenkerte die Hand und wollte weitergehen. Doch der Beamte hielt ihn fest.»Einen Moment! Sie sind kein Schweizer, was?«
»Warum nicht?«
»Das hört man doch! Warum leugnen Sie?«
»Ich leugne ja gar nicht«, erwiderte Kern.»Es interessiert mich nur, woher Sie das sofort wußten.«
Der Beamte betrachtete ihn äußerst mißtrauisch.»Sollten wir da vielleicht…?«murmelte er und ließ eine Taschenlampe aufblitzen.»Hören Sie!«sagte er dann, und seine Stimme hatte plötzlich einen anderen Klang.»Kennen Sie Herrn Ammers?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Kern, so ruhig er konnte.
»Wo wohnen Sie?«
»Ich bin erst seit heute morgen hier, wollte mir gerade einen Gasthof suchen. Können Sie mir einen empfehlen? Nicht zu teuer.«
»Zunächst kommen Sie mal mit. Da liegt eine Anzeige von Herrn Ammers vor, die paßt genau auf Sie. Das wollen wir erst mal aufklären!«
Kern ging mit. Er verfluchte sich selbst, daß er nicht besser aufgepaßt hatte. Der Beamte mußte auf Gummisohlen von hinten herangeschlichen sein. Eine Woche lang war es gut gegangen, daran lag es wahrscheinlich. Er war zu sicher geworden. Verstohlen blickte er umher, um eine Gelegenheit zum Weglaufen zu finden. Aber der Weg war zu kurz; wenige Minuten später war er schon auf der Polizeiwache.
Der Beamte, der ihn das erstemal hatte laufenlassen, saß an einem Tisch und schrieb. Kern schöpfte Mut.»Ist er das?«fragte der Polizist, der ihn gebracht hatte.
Der erste sah Kern flüchtig an.»Möglich. Kann’s nicht genau sagen. Es war zu dunkel.«
»Dann werde ich Ammers mal anrufen, der muß ihn ja kennen.«
Er ging hinaus.»Menschenskind!«sagte der erste Beamte zu Kern,»ich dachte, Sie wären längst weg. Jetzt wird’s böse. Ammers hat Sie damals angezeigt.«
»Kann ich nicht wieder weglaufen?«fragte Kern rasch.»Sie wissen doch…«
»Ausgeschlossen. Der einzige Weg geht durch das Vorzimmer drüben. Und da steht Ihr Freund und telefoniert. Nein… jetzt sitzen Sie drin. Gerade unserm schärfsten Mann, der befördert werden will, sind Sie in die Finger gefallen.«
»Verdammt!«
»Ja. Besonders, weil Sie schon einmal ausgerissen sind. Ich mußte das seinerzeit rapportieren, weil ich wußte, daß Ammers nachspionieren würde.«
»Jesus!«Kern trat einen Schritt zurück.
»Sie können sogar Jesus Christus sagen!«erklärte der Beamte.»Diesmal hilft es nichts, Sie kriegen ein paar Wochen.«
Einige Minuten später kam Ammers. Er keuchte, so war er gelaufen. Sein Spitzbart glänzte.»Natürlich!«sagte er.»Das ist er! In Lebensgröße, dieser Frechling!«
Kern sah ihn an.»Diesmal wird er ja wohl nicht entwischen, wie?«fragte Ammers.
»Diesmal nicht«, bestätigte der Gendarm.
»Gottes Mühlen mahlen langsam«, deklamierte Ammers salbungsvoll und triumphierend.»Langsam, aber trefflich fein. Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht.«
»Wissen Sie, daß Sie Leberkrebs haben?«unterbrach Kern ihn. Er wußte kaum, was er sagte. Er wußte auch nicht, wie er auf den Gedanken kam. Er war nun plötzlich rasend vor Wut, und ohne sein Unglück noch ganz zu fassen, richtete sich all sein Denken im Augenblick automatisch nur auf den Punkt, Ammers durch irgend etwas zu treffen. Schlagen konnte er ihn nicht, das hätte seine Strafe vergrößert.