»Danke! Sie sind ein vernünftiges Kind. Viel zu schade, um in einer Ehe zur unvermeidlichen Xanthippe zu werden. Oder zu einer braven Märtyrerin. Prost!«
Marill trank auf einen Schluck das halbe Glas aus.»Prost, Kern!«sagte er.»Weshalb trinken Sie denn nicht?«
Er stellte das Glas auf den Tisch und sah Kern zum erstenmal voll ins Gesicht.»Das fehlt noch«, sagte er dann,»daß Sie anfangen zu heulen! Mann, haben Sie denn gar keinen Anstand?«
»Ich heule nicht!«erwiderte Kern.»Und wenn ich heule, so ist es scheißegal! Aber verdammt, all die Zeit habe ich gedacht, Steiner wäre wieder hier, wenn ich zurückkäme, und nun packen Sie mir da Geld hin und Fahrkarten, und ich bin gerettet, weil er verloren ist, das ist doch eine verfluchte Schweinerei, verstehen Sie das denn nicht?«
»Nein! Verstehe ich nicht! Sie reden sentimentalen Quatsch! Ist gar nichts daran zu verstehen. Geht doch immer so! Und nun trinken Sie das da aus! So wie… nun, wie er es ausgetrunken hätte. Zum Teufel, meinen Sie, es geht mir nicht an die Knochen?«
»Ja…«
Kern trank das Glas aus.»Ich bin wieder beieinander«, sagte er.»Haben Sie eine Zigarette, Marill?«
»Natürlich. Hier…«
Kern atmete den Rauch tief ein. Er sah plötzlich, im Halbdunkel der Katakombe, Steiners Gesicht. Etwas ironisch, vorgeneigt, beschienen vom flackernden Kerzenlicht, wie damals vor einer Ewigkeit im Gefängnis in Wien, und ihm war, als hörte er die ruhige, tiefe Stimme:»Na, Baby?«Ja, dachte er, ja, Steiner!
»Weiß Ruth es?«fragte er.
»Ja.«
»Wo ist sie?«
»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich beim Flüchtlingskomitee. Sie wußte nicht, daß Sie kämen.«
»Nein. Ich wußte ja selbst nicht genau, wann ich ankommen würde. Kann man in Mexiko arbeiten?«
»Ja. Was, weiß ich nicht. Aber Sie bekommen eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Das ist garantiert.«
»Ich kann kein Wort Spanisch«, sagte Kern.»Oder spricht man da Portugiesisch?«
»Spanisch. Sie müssen es eben lernen.«
Kern nickte.
Marill beugte sich vor.»Kern«, sagte er mit plötzlich veränderter Stimme:»Ich weiß, es ist nicht einfach. Aber ich sage euch: fahrt ab! Denkt nicht nach! Fahrt ab! Macht, daß ihr aus Europa ’rauskommt! Weiß der Teufel, was hier noch werden wird! So eine Chance kommt nicht leicht wieder. Und so viel Geld werdet ihr auch nie wieder zusammenkriegen! Fahrt ab, Kinder! Hier…«
Er trank den Rest seines Glases aus.
»Fahren Sie mit?«fragte Kern.
»Nein.«
»Reicht das Geld nicht für drei? Wir haben doch auch noch etwas.«
»Darauf kommt es nicht an. Ich bleibe hier. Ich kann Ihnen nicht erklären, warum. Ich bleibe. Ganz gleich, was wird. Man kann das nicht erklären. Man weiß es, fertig.«
»Ich verstehe«, sagte Kern.
»Da kommt Ruth«, erwiderte Marill.»Und ebenso wie ich hierbleibe, fahren Sie ab, verstehen Sie das auch?«
»Ja, Marill.«
»Gott sei Dank!«
Ruth blieb eine Sekunde an der Tür stehen. Dann stürzte sie auf Kern zu.»Wann bist du gekommen?«
»Vor einer halben Stunde.«
Ruth hob den Kopf aus einer Umarmung, die endlos und kürzer als ein Herzschlag war.»Weißt du…?«
»Ja. Marill hat mir alles gesagt.«
Kern sah sich um. Marill war nicht mehr da.
»Und weißt du auch…?«fragte Ruth zögernd.
»Ja, ich weiß es. Wir wollen nicht davon sprechen jetzt. Komm, wir wollen hier heraus! Laß uns auf die Straße gehen. Nach draußen. Ich möchte hier weg. Laß uns auf die Straße gehen.«
»Ja.«
SIE GINGEN ÜBER die Champs-Elysées. Es war Abend, und der halbe Mond stand blaß am apfelgrünen Himmel. Die Luft war silbern und klar und so milde, daß die Kaffeehausterrassen voller Gäste waren.
Sie gingen schweigend, eine lange Zeit.»Weißt du eigentlich, wo Mexiko liegt?«fragte Kern schließlich.
Ruth schüttelte den Kopf.»Nicht genau. Aber ich weiß auch nicht mehr, wo Deutschland liegt.«
Kern sah sie an. Dann nahm er ihren Arm.»Wir müssen uns eine Grammatik kaufen und Spanisch lernen, Ruth.«
»Ich habe vorgestern schon eine gekauft. Antiquarisch.«
»So, antiquarisch…«Kern lächelte.»Wir werden schon durchkommen, Ruth, was?«
Sie nickte.
»Auf jeden Fall sehen wir etwas von der Welt. Das hätten wir sonst nicht gehabt, zu Hause.«
Sie nickte wieder.
Sie gingen weiter, am Rond point vorüber. An den Bäumen drängte sich das erste junge Grün. Im Licht der frühen Lampen sah es aus wie ein flackerndes Elmsfeuer, das aus der Erde kam und die Äste und Zweige der Kastanien entlang loderte. Die Erde der Anlagen war umgegraben. Ihr starker Duft mischte sich sonderbar mit dem Geruch von Benzin und Öl, der immer über die breite Straße wehte. An einigen Stellen hatten die Gärtner bereits blühende Narzissenbeete eingesetzt. Sie schimmerten in der Dämmerung. Es war die Stunde, wo die Geschäfte geschlossen wurden, und der Verkehr war so dicht, daß es schwer war, vorwärts zu kommen.
Kern sah Ruth an.»Wie viele Menschen es gibt«, sagte er.
»Ja«, erwiderte sie.»Furchtbar viele Menschen.«