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»Eine Sekunde«, bat der und fragte den Wächter:»Sie sind sicher, mein Herr, daß da drin nicht…?«

»Keine Sorge. Unsere Konzentrationslager sind weiter unten.«

Die beiden Engel nahmen seine Arme, und dann schritt Vater Moritz, der alte Wanderer, der Veteran der Emigranten, getrost durch das Tor, auf ein ungeheures Licht zu, über das plötzlich rauschend schneller und schneller farbige Schatten fielen…

»Moritz«, sagte Edith Rosenfeld in der Tür.»Hier ist das Baby. Der kleine Franzose. Willst du ihn sehen?«

Es blieb still. Sie trat vorsichtig näher. Moritz Rosenthal aus Godesberg am Rhein atmete nicht mehr.

MARIE ERWACHTE NOCH einmal. Sie hatte den ganzen Vormittag in einer dämmernden Agonie gelegen. Jetzt erkannte sie Steiner ganz klar.

»Du bist noch hier?«flüsterte sie erschrocken.

»Ich kann hierbleiben, so lange ich will, Marie.«

»Was heißt das?«

»Die Amnestie ist herausgekommen. Ich falle darunter. Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Ich bleibe jetzt immer hier.«

Sie sah ihn grübelnd an.»Du sagst mir das, um mich zu beruhigen, Josef…«

»Nein, Marie. Die Amnestie ist gestern herausgekommen.«Er wandte sich nach der Schwester um, die im Hintergrund des Zimmers herumhantierte.»Nicht wahr, Schwester, seit gestern besteht keine Gefahr mehr für mich, erwischt zu werden?«

»Nein«erwiderte die Schwester undeutlich.

»Bitte, kommen Sie doch näher, meine Frau möchte es von Ihnen genau hören.«

Die Schwester blieb gebückt stehen.»Ich hab’s ja schon gesagt.«

»Bitte, Schwester!«flüsterte Marie.

Es blieb still.»Bitte, Schwester«, flüsterte die Kranke noch einmal.

Die Schwester schob sich unwillig heran. Die Kranke sah sie angestrengt an.»Nicht wahr, ich darf seit gestern immer hierbleiben?«fragte Steiner.

»Ja«, stieß die Schwester hervor.

»Es besteht keine Gefahr für mich mehr, erwischt zu werden?«

»Nein.«

»Danke, Schwester.«

Steiner sah, wie sich die Augen der Sterbenden verschleierten. Sie hatte keine Kraft mehr, zu weinen.»Jetzt ist alles gut, Josef«, flüsterte sie.»Und jetzt, gerade wo du mich brauchen kannst, muß ich weg…«

»Du gehst nicht weg, Marie…«

»Ich möchte aufstehen und mit dir gehen können.«

»Wir werden zusammen fortgehen.«

Sie lag eine Zeitlang und sah ihn an. Ihr Gesicht war grau, das Skelett arbeitete sich durch, und das Haar war über Nacht fahl und glanzlos geworden, als sei es erblindet. Steiner sah das alles und sah es doch nicht; er sah nur, daß der Atem noch ging; und solange sie lebte, war sie für ihn Marie, seine Frau, umgeben vom Schimmer der Jugend und der Gemeinsamkeit.

Der Abend kroch ins Zimmer, und von draußen, von der Tür her, hörte man ab und zu das herausfordernde Räuspern Steinbrenners. Maries Atem wurde flach, dann kam er stoßweise, mit Pausen. Endlich wurde er leise und hörte auf, wie ein schwacher Wind, der einschläft. Steiner hielt ihre Hände, bis sie kalt wurden. Er starb mit. Als er aufstand, um hinauszugehen, war er ein gefühlloser Fremder, eine leere Hülle, die die Bewegung eines Menschen hatte. Er streifte die Schwester mit einem gleichgültigen Blick. Draußen wurde er von Steinbrenner und dem zweiten in Empfang genommen.»Über drei Stunden haben wir auf dich gewartet«, knurrte Steinbrenner.»Darüber werden wir uns öfter noch mal unterhalten, da kannst du sicher sein.«

»Ich bin sicher, Steinbrenner, dieser Dinge bin ich bei dir sicher.«

Steinbrenner leckte sich die Lippen.»Du weißt ja wohl, daß die Anrede für mich ›Herr Wachtmeister‹ ist, glaube ich, was? Sag ruhig weiter ›Steinbrenner‹ und ›Du‹ zu mir… aber für jedesmal wirst du wochenlang blutige Tränen weinen, mein Liebling. Ich hab’ ja jetzt Zeit mit dir.«

Sie gingen die breite Treppe hinunter, Steiner zwischen den beiden Wächtern. Es war ein milder Abend, und die bis zum Boden reichenden Fenster der oval geschwungenen Außenwand waren weit geöffnet. Es roch nach Benzin und einer Ahnung von Frühling.

»Ich habe ja so unendlich viel Zeit mit dir«, erklärte Steinbrenner langsam und vergnügt.»Dein ganzes Leben, mein Süßer. Und unsere Namen passen so schön… Steiner und Steinbrenner. Mal sehen, was wir daraus noch machen können.«

Steiner nickte nachdenklich. Das schräg geschnittene offene Fenster wurde größer, kam heran, ganz nahe, er gab Steinbrenner einen Stoß gegen das Fenster hin, sprang gegen ihn, über ihn und stürzte mit ihm zusammen ins Leere.

»SIE KÖNNEN DAS Geld ruhig nehmen«, sagte Marill zerstört und traurig. Er hat es mir ausdrücklich für Sie beide hiergelassen. Ich sollte es Ihnen geben, wenn er nicht zurückkommt.«

Kern schüttelte den Kopf. Er war gerade angekommen und saß schmutzig und abgerissen mit Marill in der Katakombe. Von Dijon aus war er als Beifahrer und Gehilfe eines Lastwagenzuges gefahren.

»Er kommt wieder«, sagte er.»Steiner kommt wieder.«

»Er kommt nicht wieder!«erwiderte Marill heftig.»Herrgott, machen Sie es einem doch nicht noch schwerer mit Ihrem dauernden: er kommt wieder! Er kommt nicht wieder! Hier, lesen Sie das!«

Er zog ein zerknittertes Telegramm aus der Tasche und warf es auf den Tisch. Kern nahm es und glättete es. Es war aus Berlin und an die Wirtin des Verdun gerichtet.»Herzliche Wünsche zum Geburtstag, Otto«, las er.

Er sah Marill an.

»Was heißt das?«fragte er.

»Das heißt, daß er geschnappt worden ist. Wir hatten das so verabredet. Einer seiner Freunde sollte das Telegramm schicken. Es war vorauszusehen. Ich habe es ihm gleich gesagt. Und nun nehmen Sie endlich diese dreckigen Lappen!«

Er schob das Geld zu Kern hinüber.»Es sind zweitausendzweihundertvierzig Francs«, erklärte er.»Und hier ist noch etwas!«Er holte seine Brieftasche hervor und nahm zwei kleine Hefte heraus.»Das sind Fahrkarten von Bordeaux nach Mexiko. Mit der ›Tacoma‹. Portugiesischer Frachtdampfer. Für Sie und Ruth. Fährt am Achtzehnten. Wir haben sie gekauft von dem übrigen Geld. Dies hier ist der Rest. Visa sind schon besorgt. Liegen beim Flüchtlingskomitee.«

Kern starrte die Hefte an.»Aber…«, sagte er völlig verständnislos.

»Nichts aber!«unterbrach Marill ihn ärgerlich.»Machen Sie keine Schwierigkeiten, Kern! Hat Mühe genug gekostet, das alles! Verdammter Zufall! Kam vor drei Tagen heraus. Das Flüchtlingskomitee hat von der mexikanischen Regierung die Erlaubnis bekommen, hundertfünfzig Emigranten hinüberzuschicken. Voraussetzung, daß sie die Überfahrt bezahlen können. Eines der Wunder, die ab und zu passieren. Klassmann kam damit an. Wir haben sofort gebucht für Sie beide, bevor alles überzeichnet ist. Geld für die Reise war ja da, jetzt gerade. Na, und…«

Er schwieg.

»Yvonne, bringen Sie mir einen Kirsch«, sagte er dann zu der dicken Kellnerin aus dem Elsaß.

Yvonne nickte und schaukelte mit wiegenden Hüften zur Küche hinüber.

»Bringen Sie zwei!«rief Marill ihr nach.

Yvonne wandte sich um.»Hätte ich sowieso gemacht, Herr Marill«, erklärte sie.

»Gut. Wenigstens eine verständige Seele.«

Marill wandte sich wieder Kern zu.»Verstanden, inzwischen?«fragte er.»Etwas überraschend, das alles, ich gebe es zu. Wenn Sie die Fahrkarte und das Visum auf der Präfektur vorzeigen, bekommen Sie eine Aufenthaltserlaubnis für Frankreich bis zu dem Datum, an dem das Schiff ausfährt. Auch wenn Sie illegal eingereist sind. Das Flüchtlingskomitee hat das erreicht. Sie können morgen gleich hingehen. Es ist die einzige Möglichkeit für Sie, ’rauszukommen aus dem Dreck.«

»Ja. Beim erstenmal einen Monat, beim zweitenmal sechs Monate Gefängnis.«

»Sechs Monate, ja. Und irgendwann wird man immer zum zweitenmal geschnappt, todsicher!«Marill sah auf. Yvonne stand vor ihm und stellte ein Tablett mit zwei Gläsern auf den Tisch. Eines war ein normales Glas; das zweite ein Wasserglas, bis oben mit Kirschgeist gefüllt.

»Das ist für Sie!«erklärte Yvonne grinsend und zeigte mit dem Daumen auf das Wasserglas.»Zum selben Preis!«

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