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»Was ist los, Baby«fragte Steiner und blickte von seinen Karten auf.

»Ich weiß nicht. Ich lache.«

»Lachen ist immer gut.«Steiner zog den Pickönig und trumpfte dem sprachlosen Polen einen todsicheren Stich ab.

Kern griff nach einer Zigarette. Alles erschien ihm auf einmal ganz einfach. Er beschloß, morgen Karten spielen zu lernen, und er hatte das merkwürdige Gefühl, als ändere dieser Entschluß sein ganzes Leben.

2

Nach fünf Tagen wurde der Falschspieler entlassen. Man hatte nichts gegen ihn finden können. Steiner und er schieden als Freunde. Der Falschspieler hatte die Zeit dazu benützt, die Methode seines Schülers Katscher bei Steiner zu vollenden. Zum Abschied schenkte er ihm das Spiel Karten, und Steiner begann mit dem Unterricht Kerns. Er brachte ihm Skat, Jaß, Tarock und Poker bei – Skat für Emigranten; Jaß für die Schweiz; Tarock für Österreich und Poker für alle anderen Fälle.

Nach vierzehn Tagen wurde Kern heraufgeholt. Ein Inspektor führte ihn in einen Raum, in dem ein älterer Mann saß. Das Zimmer erschien Kern riesig groß und so hell, daß er blinzeln mußte; er war schon an die Zelle gewöhnt.

»Sie sind Ludwig Kern, staatenlos, Student, geboren am dreißigsten November neunzehnhundertvierzehn in Dresden?«fragte der Mann gleichgültig und blickte in ein Papier.

Kern nickte. Er konnte nicht sprechen. Seine Kehle war plötzlich trocken. Der Mann sah auf.

»Ja«, sagte Kern heiser.

»Sie haben sich ohne Papiere und unangemeldet in Österreich aufgehalten…«Der Mann las rasch das Protokoll herunter.»Sie sind zu vierzehn Tagen Haft verurteilt, die inzwischen verbüßt worden sind. Sie werden aus Österreich ausgewiesen. Jede Rückkehr ist strafbar. Hier ist der gerichtliche Ausweisungsbeschluß. Und hier haben Sie zu unterschreiben, daß Sie den Ausweisungsbeschluß zur Kenntnis genommen haben und wissen, daß jede Rückkehr strafbar ist. Hier rechts.«

Der Mann zündete sich eine Zigarette an. Kern sah wie gebannt auf die etwas schwammige Hand mit den dicken Adern, die das Streichholz hielt. Dieser Mann würde in zwei Stunden seinen Schreibtisch abschließen und zum Abendessen gehen – nachher würde er vielleicht ein Tarock spielen und ein paar Gläser Heurigen trinken – gegen elf Uhr würde er gähnen, seine Zeche zahlen und erklären:»Ich bin müde. Ich gehe nach Hause. Schlafen.«Nach Hause. Schlafen. Um dieselbe Zeit würde die Dunkelheit dicht über den Wäldern und Feldern an der Grenze liegen, die Dunkelheit, die Fremde, die Angst, und verloren darin, allein, stolpernd, müde, mit Sehnsucht nach Menschen und Angst vor Menschen, das winzige, flackernde Fünkchen Leben Ludwig Kern. Und all das nur, weil ihn und den gelangweilten Beamten hinter dem Schreibtisch ein Stück Papier trennte, Paß genannt. Ihr Blut hatte die gleiche Temperatur, ihre Augen hatten die gleiche Konstruktion, ihre Nerven reagierten auf die gleichen Reize, ihre Gedanken liefen in den gleichen Bahnen – und doch trennte sie ein Abgrund, nichts war gleich bei ihnen, das Behagen des einen war die Qual des andern, sie waren Besitzender und Ausgestoßener, und der Abgrund, der sie trennte, war nur ein kleines Stück Papier, auf dem nichts weiter stand als ein Name und ein paar belanglose Daten.

»Hier rechts«, sagte der Beamte.»Vor- und Zuname.«

Kern riß sich zusammen und unterschrieb.

»An welche Grenze wollen Sie gestellt werden?«fragte der Beamte.

»An die tschechische.«

»Gut. In einer Stunde geht’s los. Es wird Sie jemand hinbringen.«

»Ich habe noch ein paar Sachen in dem Hause, wo ich gewohnt habe. Kann ich die vorher abholen?«

»Was für Sachen?«

»Einen Koffer mit Wäsche und so was.«

»Gut. Sagen Sie es dem Beamten, der Sie an die Grenze bringt. Sie können vorbeigehen.«

Der Inspektor führte Kern wieder hinunter und nahm Steiner mit hinauf.»Was war los?«fragte das Poulet neugierig.

»In einer Stunde kommen wir ’raus.«

»Jesus Christus!«sagte der Pole.»Geht Scheiße dann wieder los.«

»Möchtest du hier bleiben?«fragte das Poulet.

»Wenn Essen bessärr – und kleine Posten als Kalfaktor – gärrne.«

Kern nahm sein Taschentuch hervor und rieb seinen Anzug sauber, so gut es ging. Sein Hemd war sehr schmutzig geworden in den vierzehn Tagen. Er drehte die Manschetten um. Er hatte sie die ganze Zeit geschont. Der Pole sah ihm zu.»In ein, zwei Jahren das dirr ganz eggal«, prophezeite er.

»Wohin gehst du?«fragte das Poulet.

»Tschechei. Und du? Nach Ungarn?«

»Schweiz. Hab’s mir überlegt. Komm mit. Von da lassen wir uns dann nach Frankreich schieben.«

Kern schüttelte den Kopf.»Nein, ich will sehen, daß ich nach Prag komme.«

Ein paar Minuten später wurde Steiner wieder hereingebracht.»Weißt du, wie der Polizist heißt, der mich bei der Verhaftung ins Gesicht geschlagen hat?«fragte er Kern.»Leopold Schäfer. Er wohnt Trautenaugasse siebenundzwanzig. Sie haben es mir aus dem Protokoll vorgelesen. Natürlich nicht, daß er mich geschlagen hat. Nur daß ich ihn bedroht hätte.«Er sah Kern an.»Glaubst du, daß ich den Namen und die Adresse vergessen werde?«

»Nein«, sagte Kern.»Bestimmt nicht.«

»Das meine ich auch!«

Ein Kriminalbeamter in Zivil holte Steiner und Kern ab. Kern war aufgeregt. Vor der Tür blieb er unwillkürlich stehen. Das Bild, das er sah, prallte wie ein weicher, südlicher Wind gegen seine Stirn. Der Himmel war blau und ein wenig dämmerig über den Häusern, die Giebel leuchteten im letzten, roten Schein der Sonne, der Donaukanal schimmerte, und auf der Straße schoben sich beglänzte Autobusse durch den Strom heimkehrender und spazierender Menschen. Eine Schar Mädchen in hellen Kleidern drängte lachend und eilig dicht vorbei. Kern glaubte, noch nie etwas so Schönes gesehen zu haben.

»Los, gehen wir«, sagte der Kriminalbeamte.

Kern zuckte zusammen. Beschämt sah er an sich herunter. Er bemerkte, daß ein Vorbeigehender ihn ungeniert musterte. Sie gingen durch die Straßen, der Beamte in der Mitte. Die Cafés hatten Tische und Stühle herausgestellt, und überall saßen fröhliche, plaudernde Menschen. Kern senkte den Kopf und begann, schneller zu gehen. Steiner sah ihn mit gutmütigem Spott an.»Na, Kleiner, ist nichts für uns, was? Das da.«

»Nein«, erwiderte Kern und preßte die Lippen zusammen.

Sie kamen zu ihrer Pension. Die Wirtin empfing sie mit einer Mischung von Ärger und Mitleid. Sie gab ihnen ihre Sachen gleich heraus. Es war nichts gestohlen worden. Kern hatte in der Zelle die Absicht gehabt, ein sauberes Hemd anzuziehen, aber jetzt, nachdem er durch die Straßen gegangen war, tat er es nicht. Er nahm den zerstoßenen Koffer unter den Arm und bedankte sich bei der Wirtin.

»Es tut mir leid, daß Sie solche Unannehmlichkeiten hatten«, sagte er.

Die Wirtin wehrte ab.»Lassen Sie sich’s nur gut gehen. Und Sie auch, Herr Steiner. Wo soll’s denn hin?«

Steiner machte eine ziellose Geste.»Den Weg der Grenzwanzen. Von Gebüsch zu Gebüsch.«

Die Wirtin stand einen Augenblick unentschlossen. Dann trat sie mit energischem Schritt an ein Wandschränkchen aus Nußbaumholz, das in Form einer mittelalterlichen Burg gearbeitet war.»Nehmen Sie noch einen auf den Weg…«

Sie holte drei Gläser und eine Flasche hervor und schenkte ein.

»Sliwowitz?«fragte Steiner.

Sie nickte und bot dem Beamten auch ein Glas an.

Der wischte sich den Schnurrbart.»Unsereins tut schließlich nur seine Pflicht«, erklärte er.

»Natürlich!«Die Wirtin goß sein Glas wieder voll.»Warum trinken Sie denn nicht?«fragte sie Kern.

»Ich kann nicht. So auf den leeren Magen…«

»Ach so!«Die Wirtin blickte ihn prüfend an. Sie hatte ein schwammiges, kaltes Gesicht, das jetzt unversehens wärmer wurde.»Gott ja, er wächst wohl noch«, murmelte sie.»Franzi«, rief sie dann.»Ein belegtes Brot!«

»Danke, das ist nicht nötig«, Kern errötete.»Ich habe keinen Hunger.«

5
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