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ES WAR STILL draußen, als Kern und Ruth fortgingen. Die Buden waren schon mit ihren Zeltplanen verhängt, der Lärm war verstummt, und über Rummel und Geschrei, über das Knallen der Schüsse und die schrillen Rufe der Achterbahnen war lautlos wieder der Wald gewachsen und hatte den bunten und grauen Aussatz der Zelte unter sich begraben.

»Willst du schon nach Hause?«fragte Kern.

»Ich weiß nicht. Nein.«

»Laß uns noch hierbleiben. Herumgehen. Ich wollte, es würde nie morgen.«

»Ja. Morgen ist immer Angst und Ungewißheit. Wie schön es hier ist.«

Sie gingen durch das Dunkel. Die Bäume über ihnen regten sich nicht. Sie waren in ein weiches Schweigen wie in unsichtbare Watte gepackt. Die Blätter machten nicht das geringste Geräusch.

»Vielleicht sind wir die einzigen, die noch wach sind…«

»Ich weiß nicht. Die Polizisten sind immer länger wach…«

»Hier gibt es keine Polizisten. Hier nicht. Hier ist Wald. Wie schön es ist zu gehen! Man hörte die Füße gar nicht.«

»Ja, man hört nichts.«

»Doch, dich höre ich. Aber vielleicht bin ich es auch. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, wie es war ohne dich.«

Sie gingen weiter. Es war so still, daß die Stille zu raunen schien – als wäre sie ohne Atem und warte auf etwas ungeheuer Fremdes von weit her.

»Gib mir deine Hand«, sagte Kern.»Ich habe Angst, daß du plötzlich nicht mehr da bist.«

Ruth lehnte sich an ihn. Er fühlte ihr Haar an seinem Gesicht.»Ruth«, sagte er,»ich weiß, es ist nichts anderes als ein bißchen Zusammengehören in all der Flucht und der Leere – aber für uns ist das wohl mehr als vieles, das große Namen hat…«

Sie nickte an seiner Schulter. Sie standen eine Weile so.»Ludwig«, sagte Ruth.»Manchmal möchte ich nirgendwo mehr hin. Mich einfach so fallen lassen, in die Erde, und auslöschen…«

»Bist du müde?«

»Nein, nicht müde. Ich bin nicht müde. Ich könnte immer so weitergehen. Es ist so weich. Man stößt nirgendwo an.«

Es begann zu wehen. Das Laub über ihnen fing an zu rauschen. Kern fühlte einen warmen Tropfen auf seiner Hand. Ein zweiter streifte sein Gesicht. Er sah auf.»Es fängt an zu regnen, Ruth.«

»Ja.«

Die Tropfen fielen regelmäßiger und dichter.»Nimm meine Jacke«, sagte Kern.»Mir macht es nichts, ich bin es gewohnt.«

Er hängte Ruth seine Jacke über die Schultern. Sie fühlte die Wärme, die noch darin war, und fühlte sich plötzlich sonderbar geborgen.

Es hörte auf zu wehen. Einen Augenblick schien der Wald den Atem anzuhalten, dann flammte ein lautloser, weißer Blitz durch das Dunkel, ein rascher Donner folgte, und auf einmal stürzte der Regen hernieder, als hätte der Blitz den Himmel aufgerissen.

»Komm schnell!«rief Kern.

Sie liefen dem Karussell zu, das mit seinen heruntergelassenen Zeltwänden wie ein stumpfer Räuberturm undeutlich in der Nacht stand. Kern hob die Zeltplane an einer Stelle hoch, sie krochen beide darunter hinweg und standen, hoch atmend, plötzlich geschützt wie unter einer riesigen, dunklen Trommel, auf die der Regen herabprasselte.

Kern faßte Ruths Hand und zog sie mit sich. Ihre Augen gewöhnten sich bald an das Dunkel. Gespensterhaft ragten die Umrisse der sich bäumenden Pferde auf; die Hirsche waren in ewiger, schattenhafter Flucht versteinert; die Schwäne breiteten Flügel voll geheimnisvoller Dämmerung, und ruhevoll standen, dunkler im Dunkel, die mächtigen Rücken der Elefanten.

»Komm!«Kern zog Ruth zu einer Gondel. Er griff ein paar Samtkissen aus den Wagen und Karossen zusammen und packte sie unten hinein. Dann riß er einem Elefanten seine goldbestickte Schabracke ab.»So, jetzt hast du eine Decke wie eine Prinzessin…«

Draußen rollte langgezogen der Donner. Die Blitze warfen einen matten, bleichen Glanz in das warme Dunkel des Zeltes – und jedesmal tauchten dann die bunten Geweihe und Geschirre der Tiere, die friedlich in ewigem Kreise hintereinander paradierten, auf, wie die sanfte, ferne Vision eines verzauberten Paradieses. Kern sah Ruths bleiches Gesicht mit den dunklen Augen, und er spürte, während er sie zudeckte, ihre Brust unter seiner Hand; unbekannt und fremd wieder und erregend, wie in der ersten Nacht im Hotel Bristol in Prag.

Das Gewitter kam rasch näher. Der Donner überrollte das Trommeln auf dem straffgespannten Zeltdache, von dem das Wasser in Güssen herniederschoß; der Boden bebte bei den heftigen Schlägen, und plötzlich, im nachklingenden Schweigen einer letzten, besonders schweren Erschütterung, löste sich das Karussell und begann sich langsam zu drehen. Langsamer als am Tage, fast unwillig und wie unter einem geheimen Zwang – auch die Musik war langsamer als am Tage und auf eine sonderbare Weise mit Pausen untermischt. Es war nur eine halbe Runde, als wäre es einen Augenblick aus dem Schlaf erwacht – dann stand es wieder still, und auch die Orgel schwieg, als wäre sie müde auseinandergebrochen, und nur noch Regen rauschte, der Regen, das älteste Schlaflied der Welt.

ZWEITER TEIL

10

Der Platz vor der Universität lag in der leeren Mittagssonne. Die Luft war klar und blau, und über den Dächern kreiste ein Zug unruhiger Schwalben. Kern stand am Rande des Platzes und wartete auf Ruth.

Die ersten Studenten kamen durch die großen Türen und gingen die Treppen hinunter. Kern reckte den Kopf, um Ruths braune Baskenmütze zu entdecken. Sie war gewöhnlich eine der ersten, die herauskamen. Aber er sah sie nicht. Es kamen plötzlich auch keine Studenten mehr. Im Gegenteil: eine Anzahl von denen, die draußen waren, kehrte wieder um. Es schien etwas los zu sein.

Plötzlich, wie durch eine Explosion hervorgetrieben, quoll ein wirrer, ineinander verfilzter Haufe von Studenten aus der Tür. Es war eine Prügelei. Kern unterschied jetzt auch die Rufe:»Juden ’raus!«-»Haut die Mosessöhne in die krummen Fressen!«-»Jagt sie nach Palästina!«

Er ging rasch über den Platz und stellte sich am rechten Flügel des Gebäudes auf. Er mußte vermeiden, in die Prügelei zu geraten; gleichzeitig wollte er aber so nahe dabeisein, wie es ging, um Ruth herauszuholen.

Eine Gruppe von etwa dreißig jüdischen Studenten versuchte zu entkommen. Dicht aneinandergedrängt, schoben sie sich die Treppe hinunter. Sie waren umringt von ungefähr hundert anderen, die von allen Seiten auf sie einschlugen.

»Haut sie auseinander!«schrie ein großer, schwarzhaariger Student, der jüdischer aussah als die meisten der Angegriffenen.»Packt sie einzeln!«

Er setzte sich an die Spitze eines Trupps, der mit gewaltigem Geschrei einen Keil in die Gruppe der Juden bohrte und nacheinander einzelne losriß und sie den andern hinwarf, die sie sofort lit Fäusten, Bücherpacken und Stöcken bearbeiteten.

Kern blickte unruhig nach Ruth aus. Er konnte sie nirgendwo sehen und hoffte, daß sie in der Universität geblieben war. Oben auf der Freitreppe standen nur noch zwei Professoren. Einer, mit einem geteilten, grauen Franz-Joseph-Bart und einem rosigen Gesicht, der sich lächelnd die Hände rieb – und ein anderer, der hager und streng, mit unbewegter Miene in das Getümmel hinabschaute.

Ein paar Polizisten kamen von jenseits des Platzes eilig heran. Der vorderste blieb in der Nähe Kerns stehen.»Stopp!«sagte er zu den beiden anderen.»Nicht einmischen!«

Die beiden blieben stehen.»Juden, was?«, fragte einer von ihnen.

Der erste nickte. Dann bemerkte er Kern und sah ihn scharf an. Kern tat, als habe er nichts gehört. Umständlich zündete er sich eine Zigarette an und ging dabei wie absichtslos einige Schritte weiter fort. Die Polizisten verschränkten die Arme und sahen neugierig der Schlägerei zu.

Ein kleiner jüdischer Student entkam dem Getümmel. Er blieb wie geblendet einen Augenblick stehen. Dann sah er die Polizisten und rannte auf sie zu.

»Kommen Sie!«schrie er.»Rasch! Helfen Sie! Man schlägt sie ja tot!«

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